Vorschlag-Hammer:Katharsis

Der Schweizer Theatermacher Milo Rau hat etwas gewagt, was sich noch kein Theater in Belgien getraut hatte. Er hat die Verbrechen des Kinder- und Frauenmörders, des bizarr unmenschlichen Vergewaltigers Marc Dutroux auf die Bühne gebracht. Jetzt ist das Stück in den Kammerspielen zu sehen

Von Egbert Tholl

Als das Stück beim Kunstenfestival in Brüssel herauskam, wurde es sehr schnell zum Stadtgespräch. Der Schweizer Theatermacher Milo Rau hatte etwas gewagt, was sich noch kein Theater in Belgien getraut hatte, er hatte die Verbrechen des Kinder- und Frauenmörders, des bizarr unmenschlichen Vergewaltigers Marc Dutroux auf die Bühne gebracht. In den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts hatten die Enthüllungen über Dutroux' Taten ein noch größeres Entsetzen ausgelöst als später die Nachrichten aus den österreichischen Folterkellern. Zu monströs war wohl diese Realität, um sie Theater werden zu lassen. Da braucht es einen furchtlosen Dokumentartheaterspezialisten wie Rau, um sich dem Stoff zu nähern. In diesen "Five Easy Pieces" erhöht dieser noch den Druck, diskutiert mit seiner Inszenierung auch ein ganzes Genre und damit seine bisherigen eigenen Arbeiten. Rau nähert sich einem krassen Familien- und damit Gesellschaftspanorama, das vom belgischen Kolonialismus im Kongo, bekanntermaßen für sich schon eine besonders grausame Spielart der Ausbeutung Afrikas, bis in den Prozess gegen Dutroux reicht. Und: Es spielen Kinder.

Belgische Kinder sind in seiner Aufführung Opfer und Täter. Sie sind zwischen acht und 13 Jahren alt und verfügen über eine erstaunliche Souveränität, entstanden in den fünf Monaten Proben im geschützten Raum des Produktionshauses Campo Gent, das für seine außerordentlich Kinder- und Jugendarbeit weltweit gefeiert wird. Die Kinder spielen eine Tatortbegehung, Szenen aus dem Leben von Dutroux' brutalem Vater, Polizisten, Hinterbliebene, Opfer. Sie machen Theater für Erwachsene, obwohl sie Kinder sind. Und gerade weil sie Kinder sind, kroch die Aufführung allen, die sie damals in Brüssel sahen, unter die Haut und ins Gemüt. Nun ist sie an den Münchner Kammerspielen zu Gast, von 1. bis 3. Oktober.

Die führen damit ihre Linie als umtriebigstes Gastspielhaus der Stadt fort, doch in Fall von Milo Raus würdevoller, kathartischer Trauerarbeit kann man ihnen dazu nur gratulieren, wie übrigens auch zum darauf folgenden Großbesuch des Performance-Zirkus' "The greatest Show on Earth", der von 13. Oktober an vier Tage zu Gast sein wird. Milo Rau vollendet mit seinem Gastspiel übrigens eine erstaunliche Rundreise durch die Münchner Bühnen. Zum ersten Mal in der Stadt war er im Rahmen der Festivals "Spielart" und "Radikal jung", dann entwarf er eigene Arbeiten im Marstall des Residenztheaters, nun ist er zu Gast an der größten freien Bühne der Stadt, die auch noch einen städtischen Ensemblebetrieb unterhält, der ja gerade seine Arbeit aufgenommen hat, mit dem herrlichen Geschichtenerzähler Amir Reza Koohestani und dem "Fall Meursault".

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: