Vorschlag-Hammer:Ein Haufen Scherben

...machte einst Musik und Rio Reiser als Band republikweit zum König

Von Michael Zirnstein

Einen genialen Szenenwechsel habe ich neulich im Ingolstädter Freilichttheater Turm Bauer erlebt, einem Klenze-Bau, wen's interessiert. Für das Bühnenbild der Revue Rio Reiser - König von Deutschland (noch bis 25. Juli) hatte man die Hobbykeller der Stadt nach ausgelatschten Teppichen durchkämmt und unter anderem einen wohnzimmerfüllenden Flokati gefunden. Als nun im Stück Rios Kommunen-Band Ton, Steine, Scherben aus der Berliner Schmuddel-WG auf einen Bauernhof in Nordfriesland zog, schlurften zwei Darsteller an das Zottelvieh und drehten es einmal im Halbkreis. Sonst blieb alles beim Alten. Neue Bude, der alte Siff. Dahinter haushohe Rückwände aus braunem Leergut. So war das damals.

Wer das nicht glaubt, kann sich im Haus der Kunst von der Ausstellung Geniale Dilletanten belehren lassen - schon der Tippfehler im Titel zeigt, dass in der Subkultur der Makel chic war. Es galt, sich allen Ordnungshütern zu verweigern. Fotos von unbewohnbaren, doch behausten Raum-Biotopen sind ebenso zu bestaunen wie Bands, denen Rio den Weg gebahnt hat. Die wandel- und wunderbaren F.S.K. sind Münchens Vertreter, leider treten sie in nächster Zeit nur in Hannover auf (7. Juli, Festival Theaterformen). Wer sind nun "die Erben der Scherben"? Alle jene deutschsprachigen Gruppen, die vorige Woche erstmals in der Geschichte die kompletten Album-Top-Ten belegten? Oder eher solche widerborstigen, ästhetisch ambitionierten Bands wie Tocotronic (14. November, Zenith) oder Die Goldenen Zitronen, die heuer die Hauptattraktion beim Szene-Ausflug zum Bauernhof-Openair Puch bei Jetzendorf sind (18. Juli). Oder die reaktivierte Münchner Neue-Deutsche-Welle-Band Lila Sterila. Die spielt am Sonntag, 5. Juli, 15.30 Uhr, im Andechser Zelt auf Tollwood zusammen mit der SZ-Redaktions-Combo Deadline, deren orgelnder Boss Karl Forster die Scherben übrigens mal eine Woche lang als Reporter begleitet hat.

Mich macht dieser Scherbenhaufen ein wenig nachdenklich. Schon weil ich keine Schallplatte von "Keine Macht für Niemand" (auf Ebay derzeit 175 Euro) von damals besitze und Rio Reiser erst durch seinen Solo-Ohrwurm "König von Deutschland" entdeckte. Wie wohl die meisten. Und mein Jugendzimmer war aufgeräumt (gut, fragen Sie jetzt nicht meine Mutter). Für mich war das Scherben-Manifest nicht gemacht: "Unser Publikum sind Leute unserer Generation: Lehrlinge, Rocker, Jungarbeiter, Kriminelle, Leute in und aus Heimen." Und dann gehe ich ja doch gerne zu Schlager-Konzerten wie neulich dem von Dieter Thomas Kuhn auf Tollwood. Und was spielt der als Zugabe allein am Flügel? "Für immer und dich", den alten Reiser-Reißer. So ergreifend wie unerwartet. Ein genialer Szenenwechsel.

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