Vor dem DSDS-Finale:Superstar gefunden!

Nichts ist leichter, als über Bohlen zu schimpfen - doch unser Autor, Professor für Populäre Kultur, fordert wegen seiner Verdienste um die Unterhaltungskultur einen Ehrendoktortitel für Dieter Bohlen.

Hans-Otto Hügel

Wie passt das zusammen? Einer der erfolgreichsten deutschen Popmusiker (mehr als 150 Millionen verkaufte Tonträger), der auf der Bühne auch singt, muss sich von BRAVO fragen lassen, ob er überhaupt singen kann. Jemand, dessen glamouröse Bühnenauftritte international Aufsehen erregen, der sich aber fast durchweg als bodenständiger Familienvater verkauft. Der beständig den Erfolgs- und Einnahmen orientierten Macher und Musikmanager hervorkehrt, sich gleichzeitig aber mit Musikerkollegen und großen Teilen des Publikums durch mehr als unverblümte Meinungsäußerungen anlegt.

Dessen Knauserigkeit durch Medienberichte so wie umlaufende Anekdoten in vieler Munde ist, der aber auch - jedenfalls in bestimmten Karrierephasen - den mit Geld um sich werfenden Popstar gibt. Der seine direkte Art, "Nichts als die Wahrheit" zu sagen (Titel der ersten Autobiographie), geradezu zelebriert; sich bei seinem zweiten Memoirenband aber von der Justiz sagen lassen muss: "So nicht"; so dass "Hinter den Kulissen" nur mit zahlreichen geschwärzten Stellen erscheinen darf.

Gewiss gehören solche und ähnliche Ungereimtheiten generell zum Menschen. Sie führen im Alltag für gewöhnlich aber nicht zu höherem Ansehen. Wird der Normalbürger allzu oft als "Mensch mit seinem Widerspruch" (C.F. Meyer) ertappt, dann ist das - gerade heute - eher hemmend für Erfolg im Beruf wie im Privaten. Gelten also für Stars besondere Gesetze?

Ja! Aber nicht in dem platten Sinn, dass Stars, wie wir es bei zahlreichen Prominenten beobachten, durch ihre gesellschaftliche Stellung Vorteile erfahren und aus heiklen Situationen vor Gericht oder beim Finanzamt leichter herauskommen. Widersprüchlichkeit, ein gegensätzliches Image, ist für den Star vielmehr konstituierend.

Freddy Quinn steht so für Fernweh wie Heimatverbundenheit. Eminem ist der harte Rapper und der gefühlvolle, verletzbare Junge, Shakira wird auf ihrer Homepage überdeutlich als Vamp und als Jungfrau mit dem Kind inszeniert. Während das Image von Prominenten oder von Alltagsmenschen nur Wert- und Einschätzungen enthält, ist das Image von Starfiguren auf Gesellschaft und Zeitgeschichtliches beziehbar: Stars sind verdichtete Zeichen. Sie vermögen es, aktuelle wie permanente Diskurse zu versinnbildlichen. Sie beziehen in einem gesellschaftlich umstrittenen Problemfeld gerade nicht die eine oder andere Position, sondern veranschaulichen es in seiner ganzen Bandbreite.

Dies erhöht nicht nur die Rezeptionsfrequenz des Stars; es ist geradezu notwendig, um seine Unterhaltungs- wie Bedeutung schaffende Funktion herauszustellen. Als einseitiges, Position markierendes Zeitzeichen würde ein Star zum Idol, zum Bannerträger. Er würde sich dann nicht nur schnell verbrauchen - wie es z.B. mit einigen Künstlern der Woodstock-Generation (wie Joan Baez) geschah -, sondern er verlöre seine Fähigkeit, ein beiläufiger, aber nicht bedeutungsloser Unterhalter zu sein.

Bohlen bezieht zum Beispiel mit seinem zur Schau gestellten Machismus (jüngst bei Kerner: "Wenn ich morgens aufstehe, wird aufgestanden!") in der gegenwärtigen, lang andauernden Genderdiskussion gerade nicht nur eine einseitige, überdies interessante politisch inkorrekte Position, sondern zeigt sich im gleichen Interview auch als zärtlicher Vater und findet es offensichtlich für sein Image nicht störend, öffentlich Babyspielzeug zu testen.

Wenn es gleichzeitig in demselben Interview Äußerungen gibt wie: "Wir [er und sein älterer Sohn] stehen abends in der Disco und sehen uns die Mädchen an" (und lassen die Frau mit dem Baby zu Hause), dann passt das aber nicht wirklich zu dem zur Schau gestellten Familienidylliker.

Solch explizit gemachter Egoismus, der im Darstellungsfeld "Liebe-Familie-Genderrolle" zu irritierender Uneindeutigkeit führt, lässt sich auf der Themenebene "Beruf-Karriere-Leistung" allerdings als konsistent begreifen. Bohlen, so deuten wir seine Starfigur dann, nimmt sich in jeder Situation das Beste; denn er ist der Profi, der beständig ackert, Leistung bringt und daher unbekümmert von Rollenerwartungen oder Wünschen anderer allein seinen Zielen folgen darf. Mit "Hartnäckigkeit ist das Wichtigste im Musikgeschäft" wird er schon im ersten BRAVO-Artikel über seine Band Modern Talking zitiert.

Popmusik als Arbeit, Professionalismus als Selbstverständlichkeit, Leistung, die sich auf Dauer auszahlt - das verkörpert Bohlen von den ersten medialen Auftritten an, nachdem er (zusammen mit Thomas Anders) national und international den Durchbruch mit Modern Talking durch "You're my Heart, You're my Soul" geschafft hat und vom erfolgreichen Pop-Produzenten zum Star wird.

Lesen Sie im zweiten Teil, warum Modern Talking das musikalische Gegenstück zu Boris Becker waren.

Superstar gefunden!

Dieter, der "Boß von Modern Talking", wie die BRAVO gerne formuliert, ist und bleibt seine ganze Karriere hindurch der Macher, der Profi, ein "kühl kalkulierender Rechner", bei dem "die Hauptsache [ist], daß die Kohle stimmt."

hügel bohlen dsds

Der Autor: Hans-Otto Hügel, geb. 1944, ist Professor für Populäre Kultur an der Universität Hildesheim. Soeben erschien von ihm "Lob des Mainstreams. Zu Begriff und Geschichte von Unterhaltung und Populärer Kultur" im Halem Verlag (408 Seiten, 32 Euro). 2003 gab er mit dem "Handbuch Populäre Kultur" (Metzler) die Grundlegung seines Faches in Deutschland heraus. Von 1977 bis 1993 war Hügel selbst Mitglied einer Fernsehjury, als Literatur- und Medienexperte in Wim Thoelkes Quizshow "Der große Preis".

"Mein Kopf in ihrem Schoß."

Das konsistente Bild vom Dieter, dem Egomanen, dem absoluten Erfolgsmenschen entsteht aber erst bei der Ausdeutung der Starfigur, wenn die Äußerungen zu den verschiedenen Themenfeldern synthetisiert werden. Der Star motiviert sein Publikum zur Deutungsarbeit, indem er in den verschiedenen Diskursen, die seine Figur besetzt, widersprüchlich agiert. Das Publikum wird aktiv, der Star bleibt im Geschäft. Auch für den, der tiefer einsteigt und zum Fan wird, bleibt der Star widersprüchlich. Mehr Information bedeutet nicht mehr Klarheit.

Im Gegenteil. Wer die Berichte und Interviews in der BRAVO seit 1985 mitliest, die Auftritte und öffentlichen Äußerungen bis hin zu den beiden Autobiographien verfolgt, bekommt ein facettenreicheres, kein eindeutiges Bild. Bohlen vermag in sein Bild vom toughen Musikmanager, vom sportlichen und unbekümmerten, zielstrebigen und arbeitsamen Profi und examinierten BWLer (Uni Göttingen; Abitur mit 17 und 1,3) den von Existenz- und Verlustängsten Getriebenen ("Wenn ich mein Haus verkaufen müsste, das wäre schrecklich. Denn ich brauche ein Zuhause.") ebenso zu integrieren, wie sich gleichzeitig als abgebrühter Casanova und als Zärtlichkeit und Geborgenheit suchender (junger) Mann zu geben.

So protzt er nach den ersten Erfolgen mit Modern Talking "Ich war der Mädchenheld der Schule", der "seine Lieblingsbeschäftigung" mit "Mädchenaufreißen" angibt, und gesteht gleichermaßen: " Ich neige dazu depressiv zu sein und brauche jemanden, der mir Mut macht. Das Geilste an 'ner Frau ist, wenn sie sagt: "Komm, ist alles nicht so schlimm. Wir packen das schon.'" Wie er noch 2005 die Frage: "Die ideale Pose von zwei Menschen auf einem Sofa?" beantwortet mit: "Mein Kopf in ihrem Schoß."

Publikumsnaher Vollblutprofi

Zusammengehalten wird solche Disparatheit des Stars, die sicher auch ein wenig dem Versuch geschuldet sein wird, jedem etwas anzubieten, nicht zuletzt durch das musikalische Werk. Bohlen ist stolz darauf, dass er bei Modern Talking mit drei Moll-Akkorden auskommt. Die Beobachtung, seine Hits klängen alle gleich, nimmt er als Kompliment.

Seine Popmusik wird nicht beglaubigt durch Verweise auf Verwurzelt-Sein in rassischen (Otis Redding; Bob Marley) oder sozialen Kontexten (die Jungs aus Liverpool), sondern durch einen im technischen Experiment gefundenen Sound. Sein Synthiepop, gefühlvoll und durchrationalisiert, international klingend und doch auch bieder deutsch daher kommend, passt wie seine neonfarbenen Jogging-Anzüge und Thomas Anders Designer-Klamotten perfekt in die Yuppie-Zeit der 1980er. Der heutige Kultwert von Modern Talking ist das Äquivalent für ihren damaligen Zeitgeist-Wert.

Bohlen und Modern Talking waren ein musikalisches Gegenstück zu dem gleichzeitig aufstrebenden Boris Becker. Beide harte Arbeiter (Becker: "Spielen mit heisser Haut") und beide ebenso genial wie simpel: drei Akkorde oder einfach fünf Schritte zur Grundlinie, Ballwurf und dann draufhauen.

Der durchkalkulierte, von Beginn (nicht nur in der BRAVO) in seiner Funktionsweise durchschaubar gemachte Medienhype um das gegensätzliche Paar Bohlen - Anders, aus dem Bohlen 20 Jahre lang Imagewerte und mediales Aufsehen erzeugt, gehört zum musikalischen Werk dazu. Beim Star werden Image und Werk stets zusammen rezipiert, sind ununterscheidbar aufeinander bezogen.

Solange Bohlen in der Öffentlichkeit als auftretender Popstar gilt, gibt er mit seiner Musik und seinem Image den harten Arbeiter wie das musikalische Allround-Talent, den glamourösen wie den publikumsnahen Vollblutprofi. Er weiß, zeigt und sagt: Popmusik wird gemacht, ist ein (industrielles) Geschäft. Und wird gerade dadurch prädestiniert für die Rolle, die in den späteren Karrierephasen immer wichtiger wird: den Vermittler von Medienwissen.

Lesen Sie im dritten Teil, wie DSDS nach dem heiligen Gral sucht und ihn schon längst gefunden hat.

Superstar gefunden!

Um die Gemachtheit des Hits zu wissen und sie herausstellen heißt aber nicht, Rezepte verkaufen! Denn natürlich gibt es kein Rezept für Erfolg im Popgeschäft. Und daher betont Bohlen auch fortwährend dessen unkalkulierbare Seite: "Personality musst du haben." Und wird gerade durch das Zusammenschauen von perfektionierbarer Machbarkeit und unfassbarem - vielleicht durch Erfahrung ein wenig greifbarem - Persönlichkeitsfaktor als Medienmanager und Medienvermittler glaubwürdig.

Ein Image kann man nicht beleidigen

Mit dem Eintritt bei der RTL-Castingshow "Deutschland sucht den Superstar" (DSDS) im Herbst 2002 wechselt Bohlen die Rolle und die Bühne. Statt auf ihr zu stehen, sitzt er jetzt davor. Aus dem Musiker wird der Musikkritiker und Medienmittler. Dass er die zweite Karriere von Modern Talking im Juni 2003 aufgibt - was viele Fans als Verrat empfinden - hat daher seine Logik. Der Karrierewechsel bedeutet aber keinen völligen Bruch in seinem Image. Mit der Fortführung seiner Produzenten-Existenz behält er auch sein Startum bei und übernimmt soviel von seiner Starfigur, wie es möglich ist.

Jetzt zahlt sich aus, dass er von Beginn an Popmusik als Arbeit beschrieben hat. Vergleicht man das, was er im ersten "BRAVO Talk Show"-Interview 1985 über sich und die Anforderungen an ambitionierte junge Popsänger sagt: üben, besser werden, richtig singen können und Personality haben, dann deckt sich das völlig mit seinen heutigen Kommentaren beim Casting von DSDS.

Allerdings besteht zwischen dem Talente Suchenden und sich selbst darstellenden Produzenten von damals und dem Medienwissen schaffenden Kritiker insofern ein wichtiger Unterschied, als er heute stets die Selbstreflexivität des Populären mitformuliert. Ausstrahlung, Personality haben galt in den 1980ern noch als Eigenschaft einer Person. Heute ist klar, und denen, die es noch nicht wissen, vermittelt Dieter es, dass Personality haben, die Darstellungsaufgabe bezeichnet, ein Image überzeugend vorzuführen. Verletzend sind Bohlens krasse Beurteilungen beim Casting daher nur dann, wenn die Kandidaten glauben, mit ihrer Person als Person überzeugen zu können.

Bohlens Vergangenheit

Die betuliche Medienkritik der Kommission für Jugendmedienschutz, die gegen DSDS Verfahren angestrengt wegen "möglicher sozialethischer Desorientierung von Kindern und Jugendlichen", übersieht die Medienkompetenz des jungen Publikums wie die Funktionsweisen der Sendung und ihres Kritikerstars. Wer glaubt: "Die Sprüche von Dieter Bohlen [werden] bewusst lanciert, um einen begleitenden Skandal zu haben" (Joan Kristin Bleicher), verkennt ihren Kontext und ihre dramaturgische Funktion. Sie sind der Preis für die akustische Wahrnehmungsschule, die Bohlen mit DSDS betreibt.

Denn seine krassen Urteile sind nur zu halten, weil er - wie man hört - sachlich im Recht ist. Eine der archetypischen Kandidatinnen, die 16-jährige Schülerin, die sich durch "My Heart Will Go On" kiekst, lässt sich - wie jedermann sich bei Video-Google überzeugen kann - tatsächlich als "nicht musikalischer als ein Gurkensalat" bezeichnen.

Würde Dieter seine Kritik in wohlgesetzten Worten vorbringen, würde DSDS zu einer ernsten musikkritischen Sendung mutieren und das schwebend ästhetisch Zweideutige, das aller Unterhaltung eigen ist, wäre dahin. Die Starfigur Bohlen träte hinter ihrer musikkritischen Funktion zurück und dann ginge paradoxerweise auch die Möglichkeit zur Musikkritik verloren; denn: Weil die Qualität von Popmusik nicht im technisch Musikalischen aufgeht, lässt sie sich auch nicht so beurteilen, sondern bedarf eines Stars, der glaubwürdig über ihre unbeweisbaren Qualitäten, den Personality-Faktor sprechen kann. Dies vermag von den Juroren wegen seines Images und seiner Vergangenheit nur Bohlen. Er ist daher der natürliche Sieger in allen Auseinandersetzungen zwischen den Juroren und mit den Kandidaten. Diese Kleinfehden sind nicht Ausdruck seines schlechten Kommunikationsstils, sondern Vorführungen seiner Starfigur.

Ein roher Clown

Bohlen aber in seiner Starfigur beschneiden, heißt den Sinn von DSDS aufheben und sie als Serienformat unmöglich machen. DSDS ist ein episches Format; allerdings eines, das - wie die Tour de France - auf viele kleine und mehrere große Höhepunkt inszeniert ist. Wie alle Epen hat es eine Figur, einen Helden, der sinnstiftend das Ganze trägt. Dass der heilige Gral von DSDS, der auch außerhalb des Formats erfolgreiche Star, nicht gefunden werden wird: kein Problem. Der Sinn von DSDS liegt nicht in der Antwort auf die Frage, wer von den Kandidaten Superstar wird. Ihr Sinn liegt vielmehr in der Wahrnehmungsschule, die Dieter Bohlen den Zuschauern angedeihen lässt. Er und DSDS verdeutlichen: Popmusik hat auch etwas mit Qualität zu tun.

Dieter Bohlen hat sich um die Unterhaltungskultur in Deutschland verdient gemacht. Es gibt zur Zeit niemanden der ihn ersetzten könnte, der im richtigen Alter ist und das richtige, widersprüchliche Image für diese Aufgabe hat; der Sachkenntnis und Krassheit, Anpassungsfähigkeit und Egozentrik, clowneske Rohheit und Werteorientierung miteinander zu verbinden weiß. Dieter Bohlen hat sich wirklich einen Ehrendoktor verdient.

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