Völkerrecht:Angriffskrieg oder humanitäre Intervention?

***BESTPIX*** Joint Forces Battle To Retake Iraqi City Of Mosul From ISIS

Ein Junge hält mit seinem Fahrrad vor einem brennenden Ölfeld, das Kämpfer des IS bei ihrem Rückzug in Qayyarah bei Mosul im Irak angezündet haben. Aufnahme vom 21. Oktober 2016.

(Foto: Carl Court/Getty Images)

Können Trumps Marschflugkörper in Syrien der Verteidigung dienen? Oder das Vorgehen Russlands in der Ukraine? Der Strafgerichtshof in Den Haag sucht nach einem verbindlichen Völkerrecht.

Von Ronen Steinke

Es gilt das bekannte Prinzip: Der Terrorist des einen ist der Freiheitskämpfer des anderen. Das heißt auch: Der Angriffskrieg des einen ist die Anti-Terror-Operation, die humanitäre Intervention oder die "vorbeugende Verteidigung" (George W. Bush) des anderen.

Für die Ankläger im Nürnberger Militärtribunal gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher 1945 war das Entfesseln eines Angriffskrieges das schwerste aller Delikte, das crime of crimes, weil es so viele weitere Verbrechen gebiert. Aber das Terrorist-oder-Freiheitskämpfer-Problem hatte zur Folge: In den Jahrzehnten danach hat sich nie wieder ein derart klarer Konsens eingestellt, wenn mehrere Mächte am Tisch saßen und die Legitimität einer konkreten Militäraktion bewerten sollten.

Die Kriegsschuld wurde ausgeklammert

So ist ausgerechnet das crime of crimes kein einziges Mal mehr international verfolgt worden. Stattdessen haben alle späteren UN-Tribunale, während sie einzelnen Kriegsverbrechen nachgingen, die grundlegende Frage der Kriegsschuld ausgeklammert wie eine politische Vorfrage, aus der man sich als weiser Richter besser heraushält.

Anstatt sich die Finger zu verbrennen, untersuchte man lieber, wer sich am humanitären Völkerrecht versündigt hatte; an Regeln also, die Angreifer und Verteidiger gleichermaßen einhalten müssen. So steht die Schwere des Angriffskriegsvorwurfs heute in einem, im Grunde verblüffenden, Kontrast zum völligen Mangel an rechtlichen Konsequenzen.

Als kürzlich der Präsident der USA Tomahawk-Marschflugkörper auf Streitkräfte des Staates Syrien feuern ließ, warf ihm Russlands Präsident einen rechtswidrigen "Akt der Aggression" vor. Die USA hatten kein UN-Mandat. Folgen? Keine.

Als 1998 die Nato in Kosovo intervenieren wollte, mochten im UN-Sicherheitsrat nicht alle fünf Vetomächte zustimmen. Die Folge? Jedenfalls ernsthaft abgeschreckt hat es die Nato und die deutsche Schröder-Fischer-Regierung nicht, und in der gängigen westlichen Geschichtsschreibung hat es ihnen auch nicht ernsthaft den Vorwurf der "Aggression gegen Serbien" eingetragen. Zu durchsichtig war, dass die UN-Vetomächte eigene Interessen im Blick hatten, als dass sie als Richter in dieser Frage moralische Autorität besessen hätten.

Wenn aber das nächste Mal der große Vorwurf im Raum steht, dann könnte sich, siebzig Jahre nach Nürnberg, erstmals wieder ein Weltgericht einschalten, ein Urteil sprechen - und echte Strafen verhängen. Das bringt eine große Änderung - der Vorwurf des Angriffskriegs könnte mit neuer Wucht in die internationale Politik zurückkehren. Das ist der Grund, weshalb in diesen Monaten ein ganzer Schwung neuer völkerrechtlicher Bücher zum "gerechten Krieg" und dessen Grenzen erscheint.

Ein Wirrwarr wild konkurrierender Doktrinen

Beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag ist kürzlich, von der Öffentlichkeit noch kaum bemerkt, ein Quorum erreicht worden. 32 der 124 Mitgliedstaaten des Gerichts haben einen Zusatz zum Artikel 8 des Gerichts-Statuts ratifiziert, der den Tatbestand der "Aggression" enthält. Beim nächsten Treffen der Mitgliedstaaten im November soll bereits endgültig abgestimmt werden, ob der Gerichtshof diesen Zuwachs an Straf-Macht erhält.

Was das bedeutet, davon gibt vielleicht am besten ein bei Cambridge University Press erschienenes juristisches Handbuch eine Ahnung. Zugegeben: keine pfiffige Streitschrift, sondern ein dickleibiges, um Balance bemühtes Werk - aber eben genau das, was künftig alle Haager Entscheider zur Hand nehmen werden, die sich in ihrer neuen Rolle selbst noch orientieren müssen. Wer sich fragt, was da auf die internationale Politik zukommt aus Den Haag, der müsste am ehesten hier eine Antwort finden.

Das Werk versammelt einige der klügsten Völkerrechtler der Gegenwart, den Finnen Martti Koskenniemi etwa oder den Kanadier William Schabas, ihre Beiträge sind oft auch sprachlich hervorragend, und was alle Autoren verbindet, ist eine Hoffnung: Die Frage, ob ein Kriegseinsatz gerechtfertigt ist, wird in Den Haag fairer beurteilt werden als bisher durch den UN-Sicherheitsrat. Das Gericht wird, schon aufgrund seiner professionellen Logik, eine wenigstens in sich konsequente Entscheidungspraxis anstreben müssen, anders als das willkürliche Hü und Hott der Vetomächte.

"Das heutige internationale Recht zum Einsatz militärischer Gewalt leidet darunter, dass es eine Reihe von Fragen gibt, auf die vernünftige Völkerrechtler unterschiedliche Antworten geben", schreibt der Rechtsprofessor Claus Kreß dann aber auch. Das ist, wie man bald merkt: putting it mildly, eine vornehme Untertreibung des zwischen Köln und Cambridge wandelnden Wissenschaftlers, der die zwei Buchbände gemeinsam mit dem Liechtensteiner Stefan Barriga herausgegeben hat.

In der UN-Charta steht sinngemäß: Militärische Gewalt darf nur zur Selbstverteidigung angewandt werden, oder zur Verteidigung eines bedrängten anderen. Aber wo beginnen die legitimen Formen der Abwehr und wo enden sie - das sind Auslegungsfragen, unter deren Last sich in den Bibliotheken die Regale biegen.

Willkürliche Rechtsprechung

Schon das US-Militärtribunal gegen das Oberkommando der Wehrmacht, so erfährt man, hatte es abgelehnt, eine Definition des Angriffskriegs zu liefern, die "alles einschließt, was dazugehört, und alles ausschließt, was nicht dazugehört".

Ähnlich wie die berüchtigte Definitionsverweigerung des US Supreme Courts, der einst zur Pornografie befand: "Ich erkenne sie, wenn ich sie sehe."

Damit wäre im Vergleich zur bisherigen Willkür des UN-Sicherheitsrats nichts gewonnen. Es hinge von der Glückssache ab, an welchen Richter man gerät. Richter sind nirgends politikferne körperlose Orakel, aber gerade in Den Haag sind sie hochpolitisch: Die 18 Richter aus 18 Ländern sind nominiert von Regierungen, denen sie zuvor teils als Diplomaten gedient haben.

Wo also liegt die verlässliche Linie, die Den Haag künftig durch das Wirrwarr der wild konkurrierenden Doktrinen ziehen wird? Ein Vorgehen wie jenes Russlands in der Ukraine 2014: Wird das künftig als Angriffskrieg gebrandmarkt werden? Oder ein Vorgehen wie jenes Israels im Gazastreifen 2014?

Werden "humanitäre" Krieger, die einen blockierten UN-Sicherheitsrat übergehen wie einst Schröder und Fischer, künftig Verbrecher genannt werden, oder nur manche oder gar keine?

Der Haager Gerichtshof will vorsichtig sein, er will nur solche Militäreinsätze als Angriffskrieg verurteilen, die, wie es im neu geschaffenen Straftatbestand heißt, "offenkundig" (manifest) gegen das Völkerrecht verstoßen. Aber was heißt "offenkundig"? Das ist "mehrdeutig und unbefriedigend", schreibt die australische Völkerstrafrechtlerin Carrie McDougall in ihrem Buchbeitrag.

Umso gespannter wird man von November an nach Den Haag blicken müssen.

Claus Kreß, Stefan Barriga (Hg.): The Crime of Aggression: A Commentary, Cambridge University Press 2017, zwei Bände, E-Book: ca. 185 Euro.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: