Vocaloid-Technik:Der unechte Popstar

Hatsune Miku

Hatsune Miku gibt auch Konzerte - sie erscheint dann als 3D-Projektion auf der Bühne. Die restlichen Musiker sind "echt".

(Foto: AFP)

Die 16-jährige Hatsune Miku ist für viele Japaner der größte Popstar der Welt. Über 100.000 Songs mit ihrer Stimme gibt es, mehr als 170.000 Videos finden sich bei Youtube. Dabei ist das Mädchen mit den Zöpfen vor allem ein Produkt seiner Fans.

Von Niklas Hofmann

Als im vergangenen Jahr das Mori Art Museum in Tokio seinen zehnten Geburtstag mit einer großen Schau zum Thema "Liebe" beging, versammelten die Kuratoren Werke von Constable und Millais bis Jeff Koons und Robert Indiana. An das Ende des Rundgangs aber hatten sie einen Raum gesetzt, der keinem Künstler gewidmet war, sondern einer Kunstfigur. Einer Figur, die jeder Japaner kennt, einem 16-jährigen Mädchen mit türkisfarbenen Zöpfen und dem Namen Hatsune Miku, das aussieht, als sei es einem Anime-Film entsprungen. Bemerkenswert findet das Tom Looser, Kulturanthropologe an der New York University: "Es wirkte, als ob Hatsune Miku der Endpunkt einer Entwicklung der Liebe sei."

Kann man Software lieben? Hatsune Miku ist nicht nur der größte Popstar der Welt, von dem die meisten Europäer noch nie etwas gehört haben. Hatsune Miku ist vor allem ein Computerprogramm, ein "Vocaloid", ein Stimmroboter.
 Über 100 000 Songs mit Hatsune Mikus Stimme gibt es, mehr als 170 000 Videos mit ihr stehen allein bei Youtube, eine Million Illustrationen kursieren von ihr im Netz - fast alle sind von Fans gemacht.

Hatsune Miku ist ein in der Geschichte des Pop beispielloses Kollaborationsprojekt. Ihre Alben haben Spitzenplätze in den japanischen Charts erreicht, als 3-D-Projektion gab sie ausverkaufte Konzerte in Tokio, aber auch in Taipeh, Singapur, Hongkong und Los Angeles. Sie war Solistin in der Ihatov-Symphonie, einer 2012 vom Japan Philharmonic Orchestra uraufgeführten Komposition Isao Tomitas, des heute 81-jährigen großen alten Manns der elektronischen Musik Japans. Und im Mai 2013 erlebte in Tokio die Oper "The End" des Komponisten Keiichiro Shibuya Premiere, in der Hatsune Miku in von Marc Jacobs entworfenen Kostümen die Hauptrolle spielte und sang.

Im vergangenen August feierte Hatsune Miku ihren sechsten Geburtstag in der Yokohama-Arena mit zwei Konzerten vor insgesamt fast 14 000 Zuschauern. Von ihrem sechsten Geburtstag zu sprechen, ist allerdings ein bisschen missverständlich, denn Hatsune Miku kam 2007 schon im Alter von 16 Jahren auf die Welt und ist seither offiziell nicht gealtert. Abgesehen davon, dass Hatsune Miku - der Name ist ein Kunstwort, das im Japanischen so viel wie "Erste Stimme der Zukunft" bedeutet - also ewige 16 Jahre alt ist, weiß man von ihr, dass sie am 31. August Geburtstag hat, 1,58 m groß und 42 kg schwer ist und türkises Haar hat, welches sie zu zwei fast bodenlangen Pferdeschwänzen gebunden trägt.

Ein unschuldiger, leerer Charakter

Dass das auch schon alles ist, was ihre Erfinder ihr an Hintergrund mitgegeben haben, gilt als eine der Wurzeln ihres Erfolgs. "Miku ist ein unschuldiger und leerer Charakter", sagt der japanische Medienwissenschaftler Mitsuhiro Takemura, "sie ist eine Existenz, die sich von jeder großen Erzählung befreit hat." Hatsune Miku kam als Leerstelle auf die Welt, die ihre Fans erst füllen mussten, als "eine Plattform, um unser eigenes Narrativ zu stricken", wie Takemura es ausdrückt.

Vocaloid ist ein seit 2004 von der Firma Yamaha vertriebenes Computerprogramm, das es ermöglicht, künstlichen Gesang zu erzeugen. Eine ganze Reihe von Unternehmen begannen damals, für Vocaloid-Nutzer Softwarepakete mit synthetisierten Stimmen anzubieten. Unter ihnen war auch Crypton Future Media. Die Firma von Hiroyuki Ito hat weit abseits der Trendfabriken von Shibuya oder Harajuku in Sapporo auf Japans Nordinsel Hokkaido ihren Sitz. Bis dahin war sie ein bodenständiger Hersteller von Musiksoftware, der professionelle Produzenten belieferte. Auch die Vocaloid-Technik richtete sich zunächst gar nicht an Endverbraucher. Nachdem das Geschäft mit den ersten Paketen nur schleppend lief, entschied man sich bei Crypton dafür, den Stimmen aus werbetechnischen Gründen Namen zu geben und durch Cover-Illustrationen im Manga-Stil auf den Verpackungen auch ein Äußeres. Es entstanden die weibliche Stimme Meiko und ihr männliches Pendant Kaito. Soweit entsprach das noch üblicher Marketingpraxis in Japan, wo fast jede Gemeinde ein eigenes Cartoon-Maskottchen hat und Manga-Figuren die Verkäufe unzähliger Alltagsprodukte ankurbeln.

Doch als der Comiczeichner KEI für die Packung der Hatsune-Miku-Software, für die die oft als "niedlich" beschriebene Stimme der Synchronsprecherin Saki Fujita gesampelt wurde, die Figur des Mädchens mit den türkisgrünen Zöpfen entwarf, fügte sich etwas zusammen, das Crypton einen unerwarteten Durchbruch auf dem Amateurmarkt verschaffte. Auf der einen Seite traf die androide Hatsune Miku mit ihrer überschlanken Figur, dem knappen Röckchen und dem Cyberpunk-Look optisch genau den Geschmack der animeverliebten Otaku-Kultur. Auf der anderen Seite war ihre leicht metallische Stimme, mit der sie in der Geschwindigkeit von 70 bis 150 Beats pro Minute singt, bestens mit dem hochgepitchten Sound des J-Pop kompatibel.

Monatlich 1000 bis 1500 neue Hatsune-Miku-Videos

Innerhalb von wenigen Tagen begannen Nutzer, Clips mit selbst produzierten Hatsune-Miku-Songs auf der größten japanischen Videoplattform Nico Nico Douga einzustellen. Einer davon wurde sehr früh zum viralen Hit. Mit den Videos tauchten auch die ersten von Fans gemachten Animationen und Zeichnungen im Netz auf, die die Figur Hatsune Miku von der Software-Verpackung weiterdachten. Einige schrumpften sie zu einer drolligen Kleinkindversion namens Hachune Miku, andere ließen sie erotische Posen einnehmen. Fans entwickelten schließlich auch die Software Miku Miku Dance (MMD), die es auf sehr einfachem Wege ermöglicht, eine animierte 3-D-Figur in einem virtuellen Raum zu bewegen. Mit Hilfe von MMD konnten auch technisch nicht über die Maßen versierte Fans nun Hatsune Miku Tanzschritte beibringen und eigene, mit selbst komponierten Songs synchronisierte Musikvideos produzieren.

Sie taten es hunderttausendfach. Selbst im Jahr 2013 erschienen bei Nico Nico Douga noch zwischen 1000 und 1500 neue Hatsune-Miku-Videos monatlich. Der Schaffensdrang von Mikus Fans erwies sich schnell als so groß, dass Crypton nichts Geschickteres tun konnte, als ihm einfach aus dem Weg zu treten.

Neben den Softwareverkäufen entwickelte sich aus der Veröffentlichung von Song-Compilations und der Vermarktung von Hatsune Miku als Werbefigur ein Multimillionengeschäft. Heute bietet Crypton den Fans mit der Seite Piapro.jp ein Forum, in dem sie Partner finden können, um gemeinsam an Projekten für Hatsune Miku und andere Vocaloid-Charaktere zu arbeiten; mit Mikubook, einem Social Network, auf dem Videos oder Bilder geteilt werden können; und mit Karent, einem Musiklabel, über das die besseren unter den Amateurkomponisten ihre Musik auch via iTunes oder Amazon vertreiben können. Um die Produktion und Verbreitung weiterer Werke zu fördern, steht Hatsune Mikus Original-Illustration seit 2012 zudem unter einer Creative-Commons-Lizenz, allerdings nur für nichtkommerzielle Zwecke. Ansonsten bleiben sie und ihre Stimme urheberrechtlich geschützt. "Hatsune Miku basiert auf dem Copyright-Business. Allerdings entwickelt sie eben nicht nur die Angebotsseite, sondern auch die Nachfrageseite", sagt Mitsuhiro Takemura, der das Sapporo Media Arts Lab in Cryptons Heimatstadt leitet.

Live-Konzert mit einem Popstar in 3D-Projektion

Längst sind die Produkte der Online-Fankulturen, die selbst gefertigten Zeichnungen, Youtube-Videos und "Fanfic"-Literatur, zu integralen Bestandteilen massenkultureller Phänomene geworden. Der offizielle Kanon der Harry-Potter-Serie, der Twilight-Filme oder auch der Boyband One Direction bietet eine Basis, auf deren Grundlage der apokryphe "Fanon", der von den Fans selbst geschaffene Schatz an Legenden und Ikonografien sein wildes Eigenleben entwickelt.

Aber Hatsune Miku lässt diese Dualität weit hinter sich, denn ein Kanon ist bei ihr gar nicht mehr identifizierbar. "Hatsune Miku ist eine Figur, die keine Geschichte hat", sagt Mitsuhiro Takemura, "und sie ist keine Figur innerhalb einer Geschichte. Sie gehört weder zum Fanon, noch zum Kanon. Sie ist eine Figur, die keinen tieferen Ursprung hat. Anders gesagt: Hatsune Miku ist eine Figur, in der man sich als User selbst repräsentiert."

Das kann man am besten bei den Live-Konzerten sehen, die Hatsune Miku seit 2009 gibt, und bei denen sie mittels einer 3-D-Projektion auf der Bühne erscheint, begleitet von einer real anwesenden, menschlichen Band. Ihre Shows, mit denen Crypton nicht nur in Japan Stadien ausverkauft, gleichen einem Akt kollektiver Huldigung und zelebrieren zugleich das Gemeinschaftserlebnis, wenn 10 000 Fans grünliche Leuchtstäbe zu Mikus Gesang wie einer gigantischen Choreografie folgend rhythmisch in die Luft recken.

Ein Produkt der Massenkultur

Das ist einerseits natürlich Spektakel und Hatsune Miku fraglos ein Produkt der Massenkultur, "vielleicht sogar von ihrer schlimmsten Seite", wie der Japanologe Tom Looser einräumt. Und doch gibt es bei Hatsune Miku eine fundamental andere Dynamik als bei jedem andere Pop-Idol. Wer Miku bei ihren Konzerten anhimmelt, bewundert schließlich zugleich auch seine eigene Kreation. Während die Kulturindustrie sonst üblicherweise das Begehren wecke, zumal ein Begehren, das schlussendlich nie befriedigt werden könne, so Looser, sei Hatsune Miku ein Abbild unserer selbst, das uns in dem Prozess zeigt, unser Objekt der Begierde selbst zu erschaffen.

Was solle man davon halten, wenn ein bekannter japanischer Medienkritiker, ein gestandener Mann jenseits der vierzig, öffentlich beteuere, dass er in Hatsune Miku wirklich und wahrhaftig verliebt sei - was einem schon merkwürdig genug erscheinen mag, weil es sich doch nur um eine virtuelle Figur handelt, aber noch befremdlicher wird, wenn man sich Miku für einen Moment als das 16-jährige Mädchen vorstellt, das sie ja verkörpern soll.

Man müsse womöglich akzeptieren, sagt Looser, dass dies mehr sei als bloßes Verlangen. Dass man sich tatsächlich in diese Figur verlieben könne. Wenn man aber in einer Art kollektivem Pygmalion-Effekt letztlich nur das liebt, was man selbst aus Hatsune Miku gemacht, was man selbst in die Leerstelle hineinprojiziert hat, dann erscheint einem die Liebe zum ersten Klang der Zukunft mit einem Mal als ultimativer Akt des Narzissmus. Vielleicht, meint Looser, zeige uns Hatsune Miku gar nicht die Zukunft der Liebe, sondern enthülle vielmehr unsere Beziehung zu den Objekten unserer Liebe.

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