Videospiele und Musik:Pokémon Symphony

Der Sound von Computerspielen wird inzwischen oft so sorgfältig komponiert wie die Musik für einen Hollywood-Blockbuster. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied.

Von Bernd Graff

Computerspieler sind Weltenbummler. Sie tauchen ein in virtuelle Realitäten, die sie nicht geschaffen haben und deren Regeln sie nicht bestimmen. Aber sie agieren darin frei und genießen die inszenierte Landschaft. Man kann viel Zeit in solchen fremden Welten verbringen - oder man verlässt sie rasch, wenn der Zauber nicht wirkt.

Die Unberechenbarkeit der Handlungen und der Motive von Computerspielern beschäftigt eine Berufsgruppe, an die man bei Computerspielen nicht sofort denkt: Komponisten. Denn für Computerspiele gilt inzwischen, was auch für Spielfilme gilt: Sie sind multimediale Ereignisse, in denen die emotionalen Valeurs des Geschehens über den Ton und die Musik vermittelt werden. Nicht nur die Bilder, auch Ton und Musik schaffen Atmosphäre. Erst sie verstärken das Gefühl, dass es sich um eine "echte" Welt handelt.

Da aber in Videospielen nichts so üppig verschleudert wird wie Spielzeit, muss mitunter ganz schön viel Musik aufgeboten werden, um den Soundtrack für ein ganzes Spiel zu füllen. Das jüngste Beispiel ist das Rollenspiel "Persona 5". Es verlangt selbst geübten Computerspielern Geduld ab. Denn wer nur agieren und nirgends verweilen will, wird hier deutlich entschleunigt. In "Person 5" erkunden die Spieler eine Teenager-Welt, die Tokio nachempfunden ist, mit Straßen, Cafés, Verkehr und Gassen. Man müsste hier nicht von einem Rollenspiel, sondern eigentlich von einem Urbanitätssimulator sprechen, in dem natürlich die spielübliche Rettung der Welt geprobt wird, aber auch für die Schule gelernt, der Bus genommen und Freundschaften geschlossen werden. Wir sprechen von einer 100-Stunden-Story.

Entsprechend umfangreich ist der Original-Soundtrack des Spiels. Er umfasst 110 eigens komponierte Songs und Akustikstücke, eingespielt von der Gruppe Atlus Sound Team und gesungen von einer Künstlerin mit Namen Lyn.

Auf der ganzen Welt werden Konzerte mit Motiven aus den Videogames aufgeführt

Gleich der Auftaktsong formuliert das Programm des Spiels: "Wake Up, Get Up, Get Out There!", also etwa: Steh auf und tu was! Man möchte ergänzen: Egal was. Für fast 70 Euro kann man sich ein CD-Set, für 30 Dollar die Dateien dieser über das Spiel gestreuten Songs unabhängig vom Spiel kaufen.

Nun wird man nicht allen Tracks unterstellen, dass sie in einer Sternstunde der Komponistenkunst entstanden sind. Dazu sind die Stücke zu herkömmlich angelegt. Man glaubt schon beim ersten Hören, sie zu kennen. Es ist, wie übrigens fast üblich bei solchen Massenschöpfungen für Computerspiele, eher ein Schlendern durch den Supermarkt der Musikgeschichte. Hier meint es mal jemand zu gut mit den Streichern, da suppt mal was in Technogewimmer ab. In der Abteilung "Aufwühlendes Pathos" scheppern die Klassik-Konserven. Hin und wieder wird auch gregorianisch geraunt, oder es gibt einen Salat an Weltmusik. Und kaum einer kommt am Bierschaum des Heavy Metal kurz vor der Kasse vorbei. Digital-Eklektizismus pur.

Der Persona-5-Soundtrack hat sich etwa von der Gute-Laune-Musik einer Band wie Daft Punk inspirieren lassen, eine funky French-House-Adaption also, die allerdings ein wenig zu hoch gepitcht und zu schnell getaktet ist. Dazu gibt es reichlich Elektro-Lametta. Sängerin Lyn hat allerdings auch kaum mehr als ein Girlgroup-Stimmchen, das sich durch den "K-Pop", den Kaugummi-Pop Südkoreas, hangelt. Das macht trotzdem allerbeste Stimmung, wenn man nicht allzu genau hinhört und das Original vergisst.

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Dieses Bild stammt aus dem mehrfach für seinen Soundtrack preisgekrönten Spiel "BioShock Infinite".

(Foto: Irrational Games)

Dennoch lässt sich das neue Genre nicht als schaler Aufguss von Bewährtem abtun. Im Gegenteil. Wie für den Film gilt auch hier, dass dem Plot und den handelnden Figuren musikalische Features mitgegeben werden, die leitmotivisch Wiedererkennbarkeit und Atmosphäre erzeugen. Und wie für einen Hollywood-Blockbuster gilt, dass die Schöpfer große Arrangements nicht scheuen. Schon der Soundtrack des Spiels "Outcast" aus dem Jahr 1999 wurde vom Moskauer Sinfonieorchester und einem Chor eingespielt.

Der limitierende Faktor für die Musik war lange die Rechnerleistung: Je stärker und schneller die Computer, desto aufwendiger kann der Soundtrack sein. Denn bereits in den frühen Neunzigerjahren, als Computer kaum mehr als fiepen konnten, wurde der Geisterpirat LeChuck aus der Monkey-Island-Reihe schon von einem karibisch anmutenden Thema leitmotivisch begleitet. Die Melodie fräste sich so tief in die Gehörgänge, dass man sie heute noch mit dem Spiel und dieser Figur verbindet. Musik verstärkt die genretypische Prägung, und so ist es vielleicht kein Wunder, dass sich inzwischen weltweit ein Typus von Konzerten etabliert hat, bei denen Motive, Themen und Songs aus den Spielen mit Vollorchestern vor zahlendem Publikum live dargeboten werden.

Das 52-köpfige, niederländische "Metropole Orkest" etwa, ein Hybrid aus Jazz Big Band und Symphonieorchester, hat den Soundtrack von "Monkey Island" in ihr Repertoire aufgenommen. Das Swedish Radio Symphony Orchestra gibt Videospiel-Abende, in denen ironiefrei die Hits aus aktuellen Shootern dargeboten werden. Die Konzerte werden sogar von öffentlich rechtlichen Sendern im Fernsehen Schwedens übertragen.

Man kann sich Videos von solchen Aufführungen auf Youtube anschauen. Etwa das des Danish National Symphony Orchestra. Es hat die Suite aus "The Witcher 3" im Repertoire, einem Fantasy-Rollenspiel, das gerade zum zweiten Mal hintereinander den Publikumspreis für Computerspiele in Deutschland gewonnen hat. Die professionelle Ernsthaftigkeit dieser Konzerte verblüfft ebenso wie die unbändige Begeisterung, mit der sie aufgenommen werden. In den Kommentaren zu diesen Videos wird dann allerdings vor allem von der Qualität der Spiele und nicht von jener der Aufführungen geschwärmt, ein Hinweis darauf, dass diese Musik zuerst der Immersion dient, dem Eintauchen in die Fiktion der Spielewelt und der Identifikation mit deren Figuren.

Das London Philharmonic Orchestra hat seit 2011 zwei "Greatest Video Game Music"-Alben mit über zwei Stunden Laufzeit herausgebracht, auf denen etwa 40 Themen aus Computerspielen zu finden sind. Diese Interpretationen sind besser als die Originalmusiken im Spiel. Denn man muss es sagen: Solche Einspielungen sind keine Verballhornungen à la "Rock meets Classic", sondern Darbietungen seriöser Musik-Kompositionen, auch wenn die Playlist der Londoner trotz dieser Seriosität für ein Symphonie-Orchester befremdet, von "Bioshock" bis zu "Portal" ist alles dabei, was Feuerkraft und Muckis hat. Ein Best-of-Shooter.

Der Track aus "Portal" übrigens, der immer gerne genommen wird, ist der Schluss-Song: "Still Alive", welcher der überlebenden Protagonistin gewidmet ist und zum Mitsingen einlädt. Auf einem Video von Jillian Aversa, die mit der Truppe "Video Games Live" um die Welt tourt, sieht man, dass das Publikum selig mitsingt und die Handy-Displays schwenkt wie bei einem, nun ja, echten Konzert.

Diese Begeisterung kennen auch die Musiker von "Pokémon: Symphonic Evolutions", einem von der Pokémon Company, also vom Spielehersteller selber, gegründeten Orchester. Dessen Dirigentin muss nur den Schriftzug "Gotta Catch 'em All", fang sie alle, das Spielmotto, einblenden, und die Begeisterungsstürme kennen kein Ende. Ein Konzert dieses Unternehmens füllte im Sommer 2015 den Madison Square Garden in New York.

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Für das Game "Persona 5", wurden 110 Songs komponiert, weil man es sehr, sehr zeitaufwändig spielen kann.

(Foto: Atlus)

Einen anderen Weg gingen die Programmierer des düsteren Epos "Wolfenstein - The New Order". Sie legten dem heroisch geschlagenen Protagonisten vor dem mutmaßlichen Ableben eine Zeile aus Chris Isaaks Song "I Believe" in den Mund, nur damit der Abspann sie in der für das Spiel eingesungenen Version des Songs von Melissa Hollick wiederaufnehmen kann.

So entsteht ein neuer Musikmarkt. Er ist riesig

Der amerikanische Musiker Garry Schyman, der die herausragenden Soundtracks für die Reihe "Bioshock" komponiert hat, erklärt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Film- und Spielmusik so: Natürlich sei man als Komponist auch Geschichtenerzähler, weil man "die emotionale Bindung des Spielers an die Bilder" befördere. "Unsere Kompositionen akzentuieren die Geschichte und erweitern sie. Die Stimmungen, die wir schaffen, sind Teil der Spielerfahrung."

Im Unterschied zum Film aber sei ein Spiel interaktiv, und einige Spielentwickler wollten darum Musik, die unmittelbar mit den Aktionen der Spieler korrespondiere. Andere hingegen wollten, dass die Musik Szenen und Momente kinematisch untermale, also funktioniere wie Filmmusik. Wenn Videospielmusik überhaupt erst mit dem technischen Fortschritt der Computer aufkommen konnte, so führt die weitere Entwicklung dahin, dass der Einsatz von Musiksequenzen vollständig von der Spieleraktion abhängt.

Schon jetzt ist es so, dass etwa das Spiel "Spore" seine Musik während der Spielerhandlung "on the fly" erst komponiert. In anderen Spielen wird eine Hintergrundmusik durch die Spieleraktionen mit Soundeffekten angereichert, der Spieler also zum Mitkomponisten. Mit anderen Worten: Die Spiele könnten sich in Zukunft vom Musikteppich, den ein Film unabhängig vom Zuschauer über die Bilder ausbreitet, zu dynamischen Tracks entwickeln, die so individuell sind wie der Spielverlauf eines einzelnen Spielers.

Schymans Soundtrack mit der Interpretation des uralten christlichen Chorals "Will The Circle be Unbroken" in "BioShock Infinite" gewann 2013 die Preise "Best Song in a Game", "Best Soundtrack" "Best Music in a Game" bei den "Annual New York Videogame Critics", bei den "Game of the Year Awards" und bei den "British Academy Video Games Awards". Dass man noch nie von der Existenz dieser Preise und dieser Institutionen gehört hat, ist bislang nicht tragisch gewesen. Nun aber zeigt sich, dass ein völlig neuer, mächtiger Musikmarkt entsteht. Und dass man schon jetzt, aber in Zukunft noch öfter Computerspielen einfach nur zuhören kann.

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