Verhaltensforschung:Lasst uns gute Säugetiere sein

Wissenschaft mit Empathie: Zum hundertsten Geburtstag des Verhaltensforschers Konrad Lorenz krabbelt neues Leben auf den Büchertisch.

Von Ulrich Kühne

Vielleicht lag der Hund schon beim alten Alfred Brehm begraben. Auch er wollte seinen Mitmenschen die wilde Kreatur nahelegen. Seit fast 140 Jahren erweist sich sein "Tierleben" dabei in immer neuen Volksausgaben als ein Kulturfolger in den Bücherregalen der Großstadtbewohner und verbreitet von dort neben zeitloser Anschauung und Bildung über die lebendige Natur seltsamerweise immer auch Ratschläge für die Zähmung, Aufzucht und Pflege der jeweils beschriebenen Spezies. Brehm schien zu meinen, dass das Tier in die Gemeinschaft mit dem Menschen gehört; wo nicht als Schlachtvieh als Hausfreund und unterhaltsamer Begleiter. Mag es auch vorher von ihm als noch so scheu, bissig oder schleimig beschrieben worden sein.

Es ist ein Phänomen des Industriezeitalters: das Tier tritt aus der Verwertungs- in die Solidar- und Kulturgemeinschaft mit dem domestizierten Mensch: Erkenne dich selbst in deinem animalischen Gegenüber. Später konnte niemand konnte das so wie Konrad Lorenz vermitteln. Zu seinem heutigen hundertsten Geburtstag erscheinen zwei neue Biographien über ihn. Zum einen haben zwei Schüler von Lorenz eine autobiographische Skizze, die Lorenz kurz vor seinem Tod 1989 in Amerika veröffentlicht hatte, erstmals auf deutsch herausgegeben und mit zwei Begleittexten über sein Leben (Wolfgang Schleidt) und Werk (Irenäus Eibl-Eibesfeldt) bereichert. Zum anderen haben die Journalisten Klaus Taschwer und Benedikt Föger, die gerade erst vor zwei Jahren ein Buch über die nationalsozialistische Vergangenheit von Konrad Lorenz veröffentlicht hatten eine neue, dickere, sein ganzes Leben umfassende Biographie nachgelegt.

Schon vor diesen beiden neuen Büchern gab es eigentlich keinen Mangel an biographischem Material über Lorenz. Wie kein anderes wissenschaftliches Werk ist das seine in die eigene Lebensgeschichte eingebettet worden. Seine neue Form der Verhaltensforschung begründete Lorenz mit einer Wissenschaftsmethode, die man eigentlich mit dem Siegeszug der harten Naturwissenschaften seit Galilei für ausgestorben hielt: das persönliche Erleben und die Empathie mit dem Forschungsgegenstand.

Um das zu vermitteln, musste Lorenz mit jeder Hypothese über die Seelenzustände seiner Tiere auch zugleich etwas über sich selbst verraten. Er empfand das offensichtlich nicht als unangenehmen. Seine Lebens- und Erlebnisberichte sprudeln vor Unterhaltsamkeit, sanfter Ironie und spielerischem Ernst. "Nur ein Mensch, der mit dem unerklärlichen Genuß eines Amateurs und der Verliebtheit eines Dilettanten auf das Objekt seiner Leidenschaft zu starren vermag, ist fähig zu entdecken", schreibt er in der von Schleidt und Eibl-Eibesfeldt veröffentlichten Skizze. Lorenz beschreibt sein Leben wie in einem Paradies, in Harmonie mit der Natur. Natur nicht als metaphysische Idee von Reinheit und Unschuld verstanden, wie von der frühen Romantik, sondern real, krabbelnd und kriechend.

In seiner frühsten Kindheit im herrschaftlichen elterlichen Landhaus bei Wien hat Lorenz sich mit seinen Spielkameraden auf den Wiesen und Donauauen seinen Privatzoo zusammengesammelt. Seine spätere Frau hat er damals im Vorschulalter kennengelernt, ebenso den späteren Philosophen Karl Popper, oder Bernhard Hellmann. Die Wissenschaft von Österreich ist in Lorenz' Erzählungen ein Abenteuerspielplatz, wo man, wenn kein Unglück passierte, 30 oder 80 Jahre lang den selben fröhlichen Beschäftigungen mit Tieren nachgehen konnte: "Erst das Hochwasser der Donau von 1937 hatte wieder eine lang andauernde Überflutung der Felder zur Folge mit Unmengen von Großblattflußkrebsen. Ich konnte sieben verschiedene Arten nachweisen, einschließlich des großartigen Tiops canceriformis. Bernhard Hellmann war damals bereits nach Holland ausgewandert, was ihn allerdings nicht davor bewahrt hat, während des Krieges nach Polen deportiert und in einem Konzentrationslager umgebracht zu werden."

Es sind die Brüche in seinem Gedankengang, die Lorenz selbst zu einem lohnenden Objekt der Verhaltensforschung machen, und die erst voll zur Wirkung kommen, wenn man die beiden neuen Bücher nebeneinander legt, Lorenz' scheinbar kohärente Selbstdarstellung und daneben den Steinbruch von widersprüchlichen Zitaten und Quellen, den Taschwer und Föger, ohne eine wesentliche Synthese zu probieren, gesammelt haben.

Lorenz präsentiert sich selbst weder als Genie oder Held, noch als bescheidener Mann. Hemmungslos prahlt er mit seinen kleinen Erfolgen, schimpft böse über ein paar Nebenpersonen. Erst wenn es ernst wird, zeigt er Liebe, Toleranz und Mitgefühl für seine Mitmenschen. Wohl nirgendwo sonst wird man einen so überzeugend freundlichen Bericht von der russischen Kriegsgefangenschaft, in der Lorenz vier Jahre verbringen musste, lesen. Lorenz präsentiert sich als Mensch, der mit seinen und anderer Leute Schwächen und Fehlern leben kann, ganz wie es seine Instinkttheorie verlangt, Aggression und Konkurrenzneid als unvermeidbare Bestandteile der Natur akzeptiert, sie gar nicht erst durch Moral zu unterdrücken versucht, und sich kindlich über das unverdiente Glück freut, dass in seinem eigenen Leben nie ein wirklich ernster Konflikt zwischen Natur und Kultur entstanden sei. Das klingt ehrlich.

Was der Leser dieser Autobiographie nicht erwartet, ist, dass dieser Mann in seinem Aufnahmeantrag für die NSDAP 1938 voll Eifer geschrieben hatte: "Ich war als Deutschdenkender und Naturwissenschaftler selbstverständlich immer Nationalsozialist ... Ich habe unter Wissenschaftlern und vor allem Studenten eine wirklich erfolgreiche Werbetätigkeit entfaltet, schon lange vor dem Umbruch war es mir gelungen, sozialistischen Studenten die biologische Unmöglichkeit des Marxismus zu beweisen und sie zum Nationalsozialismus zu bekehren... Schließlich darf ich wohl sagen, daß meine ganze wissenschaftliche Lebensarbeit, in der stammesgeschichtliche, rassenkundliche und sozialpsychologische Fragen im Vordergrund stehen, im Dienste Nationalsozialistischen Denkens steht." Taschwer und Föger haben das Dokument neben einigen anderen, die das Bild eines Oportunisten und rücksichtslos ehrgeizigen Karrieristen zeichnen, aus dem Archiv gegraben. - 1973 erhält Lorenz den Nobelpreis. Die Publicity nutzt er für seine moralische Mission, als Mahner vor den destruktiven Kräften der Zivilisation, gegen Umweltzerstörung und Atomkraftwerke. Er wird zum Mitbegründer der Ökologiebewegung.

Dass Kulturpessimismus und die Sehnsucht nach einer ursprünglichen natürlichen Ordnung sowohl im ganz rechten wie im linken politischen Lager verbreitet sind, wurde schon oft bemerkt. Irritierender an Lorenz ist der Kontrast zwischen dem Bild von seiner Person und dem Inhalt seiner Verhaltenstheorien. Der einfühlsame Vater der Graugänse hat für die Beschreibung des Seelenlebens seiner Schützlinge ein Modell entworfen, das einem seelenlosen hydraulischen Steuerungsmechanismus gleicht. "Prägung", "Schlüsselreiz", "Leerlaufhandlung", "Triebstau" "Übersprungsbewegung" - in ihrer Suggestivkraft für den Austausch der Befindlichkeiten des gemeinen Stadtneurotikers übertrifft Lorenz' wissenschaftliches Vokabular sogar dasjenige Sigmund Freuds. Der Mensch ist dem Menschen scheinbar ganz gerne eine Maschine.

Lorenz' moralische Urteile fallen durchweg in die Kategorie "naturalistischer Fehlschluss". Er beobachtet, dass domestizierte Tiere einen Teil des Instinktrepertoires ihrer wildlebenden Verwandten verlieren, und schließt daraus auf Dekadenz und Degeneration - von Tatsachen auf Werte. Um eine Aussage, "daß die ethischen Menschen nicht so viele Kinder haben und die Gangster sich unbegrenzt und sogar sorglos weiterreproduzieren" wie Lorenz für ein moralisches Problem zu halten, muss man eine ganze Menge verschwiegener und falscher Annahmen machen.

Lorenz aber glaubte an die Existenz einer reinen Natur, die zugleich gut und schön ist. Der Grund ist einfach und ursprünglich: "Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß ein Kerl, der als Junge viel mit Wild- und Haustieren zu tun hatte, dann hergeht und eine, wenn auch noch so reizvolle Marlene Dietrich heiratet!"

Ethos des Naturburschen. Moderne, weniger frustrierte Großstadtbewohner mögen es in ihrem naturalistischen Fehlschluss lieber mit den Musikern der "Bloodhound Gang" halten: "You and me baby ain't nothin' but mammals, so let's do it like they do on the ,Discovery Channel'."

KONRAD LORENZ: Eigentlich wollte ich Wildgans werden. Aus meinem Leben. Mit Essays von Irenäus Eibl-Eibesfeldt und Wolfgang Schleidt. Piper Verlag, München 2003. 146 Seiten, 14,90 Euro.

KLAUS TASCHWER, BENEDIKT FÖGER: Konrad Lorenz. Biographie. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2003. 341 Seiten, 24,90 Euro.

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