USA: Umgang mit Sexualstraftätern:Verdammt in alle Ewigkeit

Amerikas Gesetze für Sexualdelikte erklären verliebte Teenies zu Verbrechern. Die Konsequenz: Drakonische Strafen und Auflagen, elektronische Überwachung per GPS, Veröffentlichung aller persönlichen Daten im Internet - und Obdachlosigkeit unter Autobahnbrücken.

Jörg Häntzschel

Was genau der 21-jährige Freddy Bravo vor drei Jahren getan hat, ist heute schwer herauszufinden. Er war 18, soviel ist klar. Und seine Freundin war erst 12. Er nahm das Angebot der Staatsanwaltschaft an, bekannte sich schuldig, ihre "Brüste, Geschlechtsbereich, Gesäß oder die diese bedeckenden Kleider auf unzüchtige Weise berührt" zu haben.

Ein Großteil aller Kriminalfälle wird vor amerikanischen Gerichten inzwischen mit solchen "Plea Bargains" entschieden. Wer sich schuldig bekennt, bekommt niedrigere Strafen und muss sich keinem langen Prozess unterziehen, den er mit einem Pflichtverteidiger sowieso nicht gewinnen würde.

13 Monate verbrachte Freddy Bravo im Gefängnis. Nun muss er auf Jahre eine elektronische Fußfessel tragen; sich einmal im Monat bei seinem Bewährungshelfer melden; einmal im Monat einen Drogentest machen; jeden Samstag einen Kurs bei einer Psychologin besuchen; sich einmal im Jahr einem Test mit einem Lügendetektor unterziehen - und für all das selbst bezahlen.

Leben unter der Autobahnbrücke

Er darf den Landkreis nicht verlassen, darf sich Gruppen von Kindern nicht nähern und durfte anfangs selbst mit seinem 11-jährigen Bruder nur dann zusammen sein, solange die Mutter Sichtkontakt zu ihm hatte. Er muss jedem Arbeitgeber und jedem Vermieter mitteilen, dass er verurteilter Sexualstraftäter ist. Doch dass er auf unbegrenzte Zeit unter einer Autobahnbrücke leben werden müsse, damit hatte er nicht gerechnet.

Nach Monaten, die er mit 60 anderen Sexualtätern in einem Raum verbracht hatte, schlief er eine einzige Nacht in seinem eigenen Bett. Am nächsten Morgen kam der Bewährungshelfer und teilte dem Jungen mit, er müsse "unter die Brücke" ziehen - in das Camp auf einer Insel unter dem Julia Tuttle Causeway, dem Bannort für Miamis Sexualstraftäter.

Der Tuttle Causeway ist eine sechsspurige Schnellstraße, die Miami mit dem vorgelagerten Miami Beach verbindet. Hat man, von der Stadt kommend, die erste langgestreckte Brücke passiert, sieht man sie auch schon, die bunten Zelte, die auf der schmalen Insel zu beiden Seiten der Straße stehen. Findet man die Lücke in der Leitplanke, fährt man auf einem Schlammweg zur Zeltstadt.

Leben wie Hunde

Manche der zur Zeit rund 60 Bewohner kampieren zwischen Büschen neben der Brücke. Andere haben Hütten gebaut, mit Türen, die sie im Müll gefunden haben. Wieder andere haben ihren Platz oben direkt unter der Ausfahrtsrampe gefunden. In ihren Betonhöhlen hängen Spiegel, Kleider trocknen an der Leine, einige haben sogar eine Herdplatte.

Leben wie Hunde: "Wenn wir keinen Mund zum Sprechen hätten, würden sie uns bellen lassen", sagt der 31-jährige Juan Martin, den sie Rocky nennen. Ohne Wasser und ohne Strom, ohne Heizung und ohne Essen. Wer aufs Klo muss, sucht sich einen Platz im Gebüsch. Dass die Ratten das Camp nicht längst überrannt haben, ist nur den wilden Katzen zu verdanken, die einem bei jedem Schritt um die Beinen streichen.

Während viele apathisch in ihren Zelten liegen oder stundenlang die Angel ins braune Wasser halten, trabt Rocky, der hier Boss und Sprecher ist, mit seinen nackten Füßen unermüdlich auf und ab. Er zerlegt ein Zelt und baut es ein paar Meter weiter wieder auf. Er schleppt säckeweise Müll nach oben an die Leitplanke, in der Hoffnung, dass ihn dort jemand mitnimmt. Während seiner Monologe rudert er mit den Armen, wiegt hin und her. Der Kopf allein reicht nicht, der ganze Körper ist damit beschäftigt, zu verstehen, was hier passiert.

Law-and-Order-Welle

Als Mitte der neunziger Jahre nach Jahren eskalierender Gewalt die große Law-and-Order-Welle über das Land rollte, entdeckten viele Politiker, dass schwere Strafen für Sexualverbrecher Wahlerfolge garantieren. Lawinenartig verschärfte man die Gesetze, angefangen mit einer drastischen Ausweitung der Kriterien für Sexualdelikte.

In fünf Bundesstaaten zählt Sex mit einer Prostitutierten dazu, in 13 das Pinkeln in der Öffentlichkeit; in 29 Staaten Sex unter Minderjährigen, selbst wenn er einvernehmlich geschah, ganz zu schweigen vom Sex zwischen einer 18-Jährigen und einem 17-Jährigen, der Konstellation, die in der Debatte "Romeo und Julia" genannt wird.

Doch es blieb nicht bei der Kriminalisierung von harmlosen Taten, die nun Vergewaltigung und Kindesmißbrauch gleichgestellt waren. Nach und nach führten die Bundesstaaten eine juristische Sonderbehandlung der "Sex Offenders" ein, die deren Rechte auch nach der Haft radikal einschränkt. Sie müssen sich über Jahrzehnte, in 17 Bundesstaaten sogar bis ans Ende ihres Lebens öffentlich registrieren lassen.

Ab 2010 sind diese Datenbanken in allen Bundesstaaten vorgeschrieben. Und weil immer mehr Taten als Sexualdelikte geahndet werden, fallen immer mehr Menschen unter die Registrierungspflicht. So wächst die Zahl der registrierten Sexualstraftäter explosionsartig. 674 000 waren es im letzten Jahr. Kinderschänder und mehrfache Vergewaltiger sind darunter ebenso wie verliebte 19-jährige Mädchen.

"Sie sind Monster"

Die meisten Staaten veröffentlichen Adresse, Alter, Delikt und ein Foto des Verurteilten im Internet. Doch damit nicht genug. Etliche Bundesstaaten verlangen, dass Sexualstraftäter weiter als 300 Meter von Schulen, Parks, Kindergärten und Bushaltestellen entfernt wohnen müssen.

In Miami, wo man das nicht für ausreichend hielt, legte man einen Mindestabstand von 2500 Fuß fest, knapp 800 Meter. Und wegen dieser 800 Meter müssen Freddy Bravo, Juan Martin und die anderen nun unter der Brücke wohnen. Es stellte sich nämlich heraus, dass es wegen all dieser Auflagen im gesamten Landkreis Dade County praktisch keinen Ort mehr gibt, an dem sie legal wohnen dürften.

Die Menschen sind auf sich gestellt

Zuerst kampierten die Entlassenen auf dem Parkplatz des Gerichtsgebäudes. Dann fand einer von ihnen den Platz unter der Brücke. Okay, warum nicht, meinten die ratlosen Beamten und trugen "Julia Tuttle Causeway Under Bridge" auf den Ausweisen ein. Nun schicken die Beamten Freigelassene direkt unter die Brücke. Erzwungene Obdachlosigkeit ist damit de facto in den Katalog der Maßnahmen zur Verbrechensverhütung aufgenommen. Das Lager ist offiziell sanktioniert, doch an den Bedingungen dort hat sich nichts geändert. Ein paar Kirchen bringen gelegentlich Essen vorbei, ansonsten sind die Menschen dort auf sich gestellt.

Der Mann hinter der 2500-Fuß-Regel heißt Ron Book. Er ist Anwalt und mit einem Jahreseinkommen von acht Millionen Dollar Miamis bestbezahlter Lobbyist. Er ist seit 16 Jahren Chef der Obdachlosenbehörde des Landkreises Dade County. Seit seine Tochter vergewaltigt wurde, führt er einen passionierten Kreuzzug für den Schutz von Kindern an. Was das Camp angeht, spielt er eine schizophrene Doppelrolle: Mit seiner Kampagne für die Wohnsitz-Restriktionen hat er die Sexualstraftäter zu Obdachlosen gemacht. Als Herr der Obdachlosenbehörde entscheidet er, was mit ihnen passiert.

Book, ein Polterer mit kurz geschorenem Vollbart, der in dem teuren italienischen Restaurant rundum Hände schüttelt und Schultern klopft, weist jede Schuld weit von sich. "Ich habe die Leute nicht dorthin geschickt. Die Justiz war einfach zu faul, ihnen Wohnraum zu beschaffen." Nicht dass er die Situation beschönigen würde: "Es ist wie in der Dritten Welt, es ist ekelhaft. Das Lager muss geschlossen werden."

Aber nicht aus Mitleid. "Jedes dritte Mädchen, jeder sechste Junge in den USA wird sexuell missbraucht, bevor sie 18 sind. 39 Millionen Opfer von Kindesmissbrauch leben in den USA", ruft er erregt. "Nein", ruft er jetzt so laut, dass der Barmann erschrocken aufsieht, "Ich nenne sie Monster, weil sie Monster sind!"

Carlene Sawyer ist Chefin einer Stiftung für klassische Musik, doch als Präsidentin der American Civil Liberties Union (ACLU) in Miami ist sie zu einer der prominentesten Verteidigerinnen der Campbewohner geworden. So vollständig auch sie, selbst Mutter, die Angst von Eltern um ihre Kinder versteht - "eine der Urängste des Menschen, es hat wohl mit dem Kampf für das Überleben der Gattung zu tun" - so entschieden lehnt sie, wie die meisten Strafrechtler und Soziologen, die drakonische Verfolgung der Sexualstraftäter ab.

Pauschale Brandmarkung

"94 Prozent aller Kindesmisshandlungen finden im Haus der Eltern statt. In 50 Prozent der Fälle sind Eltern, Geschwister oder Stiefeltern die Täter, in den übrigen 44 Prozent sind es Freunde, Angestellte oder andere Familienangehörige."

Genau wie im Fall von Ron Books Tochter, die über Jahre vom Kindermädchen missbraucht wurde, ohne dass es dem Vater auffiel. Dagegen helfen auch die schärfsten "residence restrictions" nicht, wie die gesetzlichen Wohnortbeschränkungen heißen.

Unerwünschte Effekte

Das andere Problem der gegenwärtigen "Sex Laws" ist, so Sawyer, die pauschale Brandmarkung der "Sex Offenders": "Ein 19-Jähriger, der mit seiner 15-jährigen Freundin schläft und von deren Eltern bei der Polizei angeschwärzt wird, weil sie etwas gegen ihn haben, wird genau so behandelt wie ein 30-Jähriger, der einen Achtjährigen vergewaltigt hat." Die "residence restrictions" haben noch andere unerwünschte Effekte. Sie konzentrieren Sexualstraftäter an isolierten Orten, weit entfernt von sozialer Kontrolle. Und sie ersticken, indem sie den Täter zum Outlaw auf Lebenszeit erklären, dessen natürliches Verantwortungsgefühl für die Gesellschaft.

Kurz: Wer bei seiner Verurteilung kein Monster war, wird es an Orten wie dem Camp unter der Brücke. Denn ohnehin wird ja, zumindest in Florida, jeder Sexualstraftäter vor seiner Entlassung auf seine Gefährlichkeit hin untersucht. Wer eine Gefahr für seine Umgebung darstellt, bleibt weiterhin inhaftiert. Dieselbe Justiz, die einen Täter also als ungefährlich genug einstuft, um ihn aus der Haft zu entlassen, behandelt ihn bis an sein Lebensende wie eine Zeitbombe.

Es ist dunkel geworden, ein Auto nach dem anderen rumpelt durch die Pfützen heran. Wer nicht bis 22 Uhr, wenn die Ausgangssperre beginnt, an seinem Wohnort, der Brücke, eingetroffen ist, riskiert, auf Jahre zurück ins Gefängnis zu gehen. Nur zwei, drei Birnen unter dem großen, vibrierenden Betondach werfen ein bisschen Licht. In ihrem Wohnmobil sieht man die einzige Frau im Camp in ihrer Küche hantieren.

Unendliche Serie von Erniedrigungen

Durch die Tür seiner winzigen Hütte sind, beschienen vom Fernseher, die knochigen Beine von Patrick Weise, dem 48-jährigen Koch ohne Zähne, zu sehen. Einige schlafen schon auf den heruntergeklappten Sitzen ihrer Autos. Doch die meisten der 50 Menschen, die hier jede Nacht verbringen, bleiben von den Schatten verschluckt.

Auch Freddy und sein wie er aus Kuba stammender, drei Jahre älterer Cousin Elui Martinez sind eingetroffen. Freddy war 21, seine Freundin 15. Vor dem Gesetz ist er ein Kinderschänder, auch wenn ihn seine Freundin liebte, wie er sagt. Geplagt von der Angst, zu spät zu kommen, brechen sie jeden Abend schon um neun von ihren Freundinnen und ihren Familien auf. Jetzt stehen sie schüchtern vor ihrem Auto. Erst tun sie so, als sprächen sie kein Englisch. Doch dann sprudelt es aus ihnen heraus.

Sie vermissen ihre Neffen, sagen sie, würden wenigstens Weihnachten gerne zu Hause verbringen, mal auf eine Party gehen. Und sie zeigen die elektronische Fessel an ihren Beinen und das GPS-Gerät, das sie am Gürtel tragen müssen. Die "box" macht sie wahnsinnig, sagen sie, weil sie schon dann piepst, wenn der Satellit sie einen Moment lang aus den Augen verliert: "Gehen Sie SOFORT nach Hause" heißt es dann auf dem Display. Und: "Melden Sie sich UMGEHEND per Telefon". Und sie müssen jedesmal reagieren.

"Nicht einmal schwimmen können wir mehr gehen", sagen sie, weil die Fußfessel ab einem Meter Wassertiefe das Signal verliert. So reden sie und reden, um nur nicht das sagen zu müssen, was man ihren entsetzten Gesichtern ablesen kann: Sie werden ihr Leben inmitten eines freien und strahlenden Landes als eine unendliche Serie von Erniedrigungen leben müssen. Und sie werden nie verstehen, warum.

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