USA: Krise der Shopping-Malls:Nur noch Seehunde können uns retten

Das Interesse an neuen Flachbildfernsehern und Duftkerzen ist jäh eingebrochen, viele Shopping-Malls schließen - und werden zum Lebensraum für Hobbyarchäologen.

J. Häntzschel

Die Dixie Square Mall, 80 Meilen südlich von Chicago gelegen, ist das berühmteste tote Einkaufszentrum Amerikas. Es war schon geschlossen, als es 1979 für eine Szene von "Blues Brothers" noch einmal vorübergehend belebt wurde. Seitdem stirbt es einen langsamen Tod. Es wurde ausgeweidet, zerfleddert. Und jeden Winter stürzt wieder ein Stück Dach in die einst 65 Läden: Für Amerikas wachsende Zahl von Mall-Archäologen ist es das Pompeji des Einzelhandels, für andere nur ein riesiges Stück Sperrmüll, das niemand mitnehmen will.

USA: Krise der Shopping-Malls: Ein letztes Mal einkaufen: Wie dieser Laden in London mussten auch viele Geschäfte in Amerika schließen.

Ein letztes Mal einkaufen: Wie dieser Laden in London mussten auch viele Geschäfte in Amerika schließen.

(Foto: Foto: Reuters)

Und es bekommt immer mehr Gesellschaft. Die seit Jahrzehnten anhaltende gnadenlose Konkurrenz um Kunden und die niedrigen Baukosten haben in den USA zu einem grotesken Überangebot an Einzelhandelsflächen geführt. Wo es 1960 gerade mal 3000 Einkaufszentren gab, gibt es heute mehr als 40 000. Nach einer Studie von 2001 waren schon damals 20 Prozent der großen Malls nicht mehr profitabel oder tot.

Nun, da das Interesse an neuen Flachbildfernsehern, Heimgrills und Duftkerzen jäh eingebrochen ist, nimmt der "Einzelhandels-Darwinismus" immer gnadenlosere Formen an. Die kleineren, älteren Einkaufszentren werden umstandslos aufgegeben - wie Goldgräberstädte im Wilden Westen, wenn die Goldfunde ausblieben.

Die Idee der überdachten Einkaufsstraße stammt aus dem Paris des 19. Jahrhunderts. Doch in Amerika machte sie ein Wiener Immigrant populär. Victor Gruen, Sozialist und Utopist, träumte von den Gassen seiner europäischen Heimat, als er 1954 das Northland Shopping Center bei Detroit entwarf, Vorbild für Tausende ähnliche Projekte, die bald überall in den boomenden Vororten Amerikas aus dem Boden schossen. Das Prinzip der ersten Anlagen mit ihrem Hantel-Grundriss war simpel: Ein großzügiger Korridor mit gut durchgemischten kleineren Geschäften mündete an seinen beiden Enden in je einen anchor store, ein größeres Kaufhaus. Drumherum gab es jede Menge Parkplätze und idealerweise den Anschluss zu einem der neuen Freeways.

Diese frühen Malls waren so schlicht wie effektiv: War der Kunde einmal eingetaucht in die konfektionierte Welt, war er ihrer Verführung ausgeliefert. Mit Muzak akustisch massiert und isoliert von Störungen wie Verkehr und Wetter, trat er dem Warenangebot wie eine Labormaus gegenüber. "Gruen transfer" wird der mild hypnotische Zustand im Shopping Center denn auch genannt.

Ein Atrium mit Fontäne

Zunächst positionierten sich die Malls als saubere, sichere und moderne Alternativen zu den schlecht beleumundeten Innenstädten. Doch als in den siebziger Jahren das Land mit Einkaufszentren gesättigt war, begann die nächste Evolutionsphase: der Kampf der neuen gegen die alten Malls. So kurz ist die Lebenserwartung einer Mall, so schwer sind die Symptome des Alterns und des sozialen Abstiegs zu verstecken, dass Facelifts sich selten lohnen. Irgendein Investor roch meistens die Chance und stellte ein größeres, frischeres Einkaufszentrum auf eine Wiese in der Nähe, mit neuen Läden und Parkplätzen ohne hässliche Ölflecken. Kurz darauf wurde der Vorgänger zugesperrt und abgeräumt.

Größe und Klasse waren in diesem Rennen die entscheidenden Kriterien. Doch die Jagd immer neuer Einkaufszentren um die gleiche Zahl von Kunden führte bald zur Eskalation des Wettrüstens. Wer einmal eine der kathedralenhaften Malls mit gigantischem Atrium, Fontäne, Palmenhain und elaborierter Desorientierungsstrategie betreten hatte und zwischen Barbecues Galore und Radio Shack kryptosakrale Empfindungen hatte, wollte nie wieder zurück in einen von Gruens geduckten Neonkorridoren.

In der nächsten Evolutionsphase gingen die Malls einen Schritt weiter: Die Mall of America bei Minneapolis und die West Edmonton Mall im kanadischen Alberta, mit 836 Läden und 100 Restaurants die größte in Nordamerika, investierten Millionen in Seehundbecken und Indoor-Golf, Spaßbad und Flugsimulatoren. In der Chapel of Love der Mall of America haben schon 1500 Paare geheiratet. Es sind Einkaufszentren, Rummelplätze, Sportarenen und Urlaubsdestinationen in einem. Im Dokumentarfilm "Malls R Us" meint Rubin Stahl, der Mann hinter West Edmonton, über seine Kunden: "Wir wollen sie in der Mall behalten, solange es geht. Je länger sie bleiben, desto mehr geben sie aus."

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die neuen Mall-Modelle versuchen, so zu tun, als wären sie etwas anderes.

Nur noch Seehunde können uns retten

Doch sehr oft ließ sich diese Form des bis an den Horizont reichenden Paralleluniversums nicht wiederholen. Seit einigen Jahren setzt sich eine subtilere neue Form der Mall durch, die auf den ersten Blick gar keine zu sein scheint. Das einstige Hauptargument, Air Conditioning, zählt in diesen "Lifestyle Center" genannten, den Rezepten des New Urbanism folgenden Einkaufsstraßen nicht mehr.

Gerne lässt man eine Nostalgietram hindurchfahren. Parkbänke, ein kleiner Teich, eine Windmühle oder ein Musikpavillon gehören ebenfalls oft dazu. Obwohl die Lifestyle-Center mit ihrer neodisneyschen Heiterkeit und ihrer zynischen Simulation von Karlsbad oder Barcelona viel aufdringlicher sind, bildet sich der Kunde hier ein, etwas vom öffentlichen Raum und damit von der eigenen Souveränität zurückgewinnen, die er in den überdachten Shopping-Ghettos von einst verloren hatte.

Doch es ist nicht nur der Erfolg der neuen Mall-Modelle, der die alten obsolet macht. Das Schlendern durch Regale voller Waren allein, mit denen Vorstadtbewohner in den Nachkriegsjahrzehnten dankbar ihre leeren Nachmittage füllten, hat seine Faszination im selben Maße verloren, wie der Wohlstand stieg. Das Internet, wo dieselben Dinge steuerfrei und ohne Schlepperei zu haben sind, hat die Umsätze zusätzlich einbrechen lassen.

Vor allem aber das Schrumpfen der Mittelklasse bringt das ehemalige Erfolgsmodell in Schwierigkeiten. Die neuen Absteiger, die immer ärmer werden, können sich Shopping als Freizeitbeschäftigung nicht mehr leisten; die Aufsteiger haben entweder keine Zeit mehr oder gieren nach Status - die traditionelle Mall ist dafür der falsche Ort. Auch das Verhältnis Stadt-Suburb hat sich umgekehrt. Die undesirables hängen heute in den Malls ab, als Mall-Rats. In Amerikas postindustriellen Innenstädten hingegen blüht das kultivierte Leben zwischen Loft und Latte.

Der Erie-Kanal als Replik

Der Niedergang der Malls hat aber auch mit der Krise der Suburbs zu tun, die spätestens mit der Benzinpreisexplosion des letzten Jahres und der Kreditkrise unübersehbar wurde. Auch wenn sich an den Lebensgewohnheiten der Amerikaner über Nacht nichts ändern wird: das Leben im Riesenhaus fernab der Stadt, mit Riesenauto für die langen Wege und Riesenkofferraum, in dem Berge von in China billig produziertem Kram nach Hause geschafft werden, hat an Reiz verloren. Die Suche nach intelligenteren Lebensstilen ist in vollem Gange.

Tote Malls, die ersten Ruinen der amerikanischen Nachkriegsära, sind indes zum Hobby von Nostalgikern und Freizeitarchäologen geworden. Auf Websites wie deadmalls.com tauschen Enthusiasten Fotos und Berichte von ihren Expeditionen in die dunklen Innereien der aufgegebenen Einkaufszentren aus - und bittersüße Erinnerungen an ihre ereignisarme Vorstadtjugend, als die Mall neben dem Stadion der einzige Zufluchtsort vor Elternhaus und Schule war - oder die letzte Bastion der Menschheit im Kampf gegen die Zombies im Horrorklassiker "Dawn of the Dead" von 1978.

Neue große Malls entstehen in Nordamerika immer seltener. Einer der größten Betreiber, eine Firma namens General Growth, steht kurz vor dem Bankrott. Mall-Architekten wie Jon Jerde sind heute vor allem in China und im Nahen Osten beschäftigt, wo sie an Projekten bauen, die alles in Amerika Bekannte in den Schatten stellen. Die seit Jahren geplante Erweiterung der Mall of America auf fast doppelte Größe ist gestoppt. Auch das 400 000 Quadratmeter große Projekt "Destiny, USA" der Pyramid Companies in Syracuse, New York, das unter anderem eine Replik des Erie-Kanals enthalten sollte, ist sieben Jahre nach Baubeginn weiter denn je von der Fertigstellung entfernt.

Rubin Stahl kann das nicht aus der Fassung bringen. Im Herbst soll sein nächstes Megaprojekt eröffnen: Lac Mirabel bei Montreal, die erste "grüne Mall". Es wird eine Hummelvoliere geben, ein Aquarium mit 20 000 Arten und ein 10 000 Quadratmeter großes Spa, das einem Vorbild in Andorra nachempfunden ist. Folgt man Stahl, wird dies nicht nur die größte, sondern auch die letzte Mall sein: "Amerika ist malled-out. Dies ist das letzte große Stück Land, das es gibt."

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