USA:Die leisesten Geräusche der Welt

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Vor einem Jahr starb Denis Johnson. Seine nachgelassenen Erzählungen sind im Bewusstsein des nahenden Todes geschrieben.

Von Nicolas Freund

Es gibt Bücher, die durch den Tod bestimmt werden. Sie sind im Bewusstsein des eigenen, nahenden Lebensendes geschrieben worden und das besondere an ihnen ist die Nähe von Werk und Autor, die in ihnen aufscheint. Wolfgang Herrndorf zum Beispiel hat mit dem Tagebuch "Arbeit und Struktur" und dem Romanfragment "Bilder deiner großen Liebe" gleich zwei solche Bücher geschrieben. Natürlich gilt auch hier die unbedingte Skepsis vor einem Kurzschluss zwischen dem Leben, oder eher, dem Tod des Autors und seinem Text. In seinem einflussreichen Aufsatz "Der Tod des Autors" von 1967 trat Roland Barthes dafür ein, die oft nur vage Vorstellung von der Intention des Schriftstellers als Deutungsinstrument für Texte zu verbannen. Dem könnte man nun frech entgegenhalten, dass der Autor eines letzten Buches ja nun gerade noch nicht tot ist, ja, das Buch sich gerade durch diese letzte Phase des Lebens definiert.

Über den Film heißt es, man könne in ihm dem Tod bei der Arbeit zusehen. Der Film ist mehr als andere Künste eine Kunst der Zeitlichkeit. Das gilt auch für letzte Bücher, von denen der Autor weiß, dass sie es sind. In ihnen herrscht nicht nur ein besonderes Verhältnis zwischen Text und Verfasser, sondern es spielt darin auch - am deutlichsten in der Form des Tagebuchs - das Vergehen von Zeit eine herausgehobene Rolle. Eben hierin liegt die Gemeinsamkeit der fünf nachgelassenen Kurzgeschichten des vor fast genau einem Jahr an Leberkrebs verstorbenen amerikanischen Schriftstellers Denis Johnson, in der starken Präsenz des Autors und im Hervortreten des Motivs der vergangenen Zeit. Sie sind jetzt unter dem Titel "Die Großzügigkeit der Meerjungfrau" auf Deutsch erschienen.

"Er glaubte an so etwas, Bannflüche und dergleichen, Engel und Meerjungfrauen..."

"Schreiben. Es ist leichte Arbeit. Was man dazu braucht, kostet nicht viel, und man kann diesen Beruf überall ausüben. Man bestimmt die Arbeitszeiten selbst, schlumpft im Pyjama zu Hause herum, hört Jazz und trinkt Kaffee, während sich ein weiterer Tag davonstiehlt" sinniert der Literaturdozent in der Geschichte "Triumph über das Grab", der, wie auch Johnson, an der Uni in Austin, Texas, das Schreiben lehrt. In der Geschichte sterben um ihn herum die Freunde und bekannten Autoren. Die Nähe zu Johnson selbst ist hier so evident, dass es ans Autobiografische grenzt. Das gilt für alle diese Geschichten, jedoch nicht in so offensichtlichem Maße. Die titelgebende Geschichte erzählt in zehn schrägen Miniaturen aus dem Leben eines Werbefachmanns, der von der stressigen Ostküste ins beschauliche San Diego gezogen ist. "Heute Morgen wurde ich von einer solchen Traurigkeit über das Tempo des Lebens übermannt - die lange Wegstrecke, die ich seit meiner Jugend zurückgelegt habe, die Reue wegen neuer Geschichten, die Tatsache, dass das Scheitern imstande ist, immer wieder andere Formen anzunehmen -, dass ich fast den Wagen zu Schrott fuhr." Was am Ende zählt, ist das Auto. Man fragt sich angesichts der autobiografischen Grundierung dieser Texte, ob hier im Modus dessen, was hätte sein können, ein anderes Autorenleben durchgespielt wird. Gesetzt, spießig und selbstgerecht?

Die Geschichte beginnt mit einer bizarren Dinnerparty, auf der die Gäste einander von den lautesten und leisesten Geräuschen erzählen, an die sie sich erinnern können. "Einer meinte, es sei die Stimme seiner Frau gewesen, als sie ihm gesagt habe, sie liebe ihn nicht mehr und wolle die Scheidung. Ein anderer erinnerte sich an das Wummern seines Herzens im Moment des Infarkts." Die leiseste Erinnerung eines Gastes, Chris, war die Detonation der Landmine in Afghanistan, die ihn das Bein kostete. Alle wollen das Bein sehen. "Das wurde abgerissen." Den Stumpf dürfen sie sehen, wenn Deirdre, die als erste so frech gefragt hat, ihn küsst. Alle fünf Geschichten sind von Erinnerungen und Erzählungen dessen geprägt, was schon geschehen ist. Aber nur als Hintergrund, vor dem Johnson ein emotionales Panorama vom Witz bis zu Scham und Ekel in ein paar knappe Sätze hineinfaltet, angereichert mit allem menschlichen und gesellschaftlichen Ballast, für den ein solcher Stumpf steht. "Das Ergebnis von alldem war, dass Chris und Deirdre ungefähr sechs Monate später in Gegenwart fast derselben Gruppe von Freunden ihre standesamtliche Hochzeit feierten. Ja, sie sind jetzt Mann und Frau. Sie und ich, wir wissen, was da läuft."

An Ballast ist im Laufe eines Lebens so einiges zusammengekommen. In "Starlight" sind es Briefe aus einer Entzugsklinik, adressiert an Freunde, Verwandte und Feinde - manchmal in einer Person vereint -, sowie an den Papst, den Teufel und die Fernsehzeitschrift, also alle relevanten Instanzen. Ihr Verfasser meint, die Ärzte würden ihm ständig sagen, er müsse, nach all den Drogen, Schusswunden und Unfällen, längst tot sein. Das soll dann auch auf seinem Grabstein stehen. Der Erzähler dieser Geschichte ist Mitte dreißig, als er versucht, über das Rehaprogramm endlich klarzukommen. "Ich komme an einem Spiegel vorbei, und schön ist was anderes." Auch im Spiegel kann man dem Tod bei der Arbeit zusehen.

Denis Johnson wusste ganz genau, wie schwer es ist, diese Kurve zu nehmen. Auch er verbrachte seine Zwanziger-Jahre mit Drogen und Alkohol, bis er im Schreiben eine neue Befriedigung fand. 1982 war das Jahr, in dem er die Drogen aufgab und sein erster Roman erschien. Letzte Bücher sind auch eine Art Endlager, für Liebsames ebenso wie für Unliebsames. Der Werbefachmann aus der ersten Geschichte stößt im Haus eines befreundeten Künstlers auf allerlei Krempel, der sich angesammelt hat. "Er glaubte an so etwas, Bannflüche und dergleichen, Engel und Meerjungfrauen, Omen, Hexerei, Stimmen im Wind, Botschaften und Zeichen. Im ganzen Haus waren Zweige und Federn verteilt, die eine geheimnisvolle Bedeutung besaßen, Steine, die zu ihm gesprochen hatten, Treibholzstrünke, in denen er Gesichter erkannte." Denis Johnsons erster Roman trägt den Titel "Engel".

In der Geschichte "Würger-Bob" sitzt ein anderer Gefallener im Gefängnis, er teilt sich das ganze Stockwerk mit einer ganzen Parade zwielichtiger Gestalten. Die Zellentüren stehen in dieser Vollzugsanstalt zwar meist offen, aber während die Insassen hinter den Stäben einander quälen, zieht draußen gleichgültig die Welt vorbei. Auch dies ist ein Motiv, das in allen Geschichten wieder auftaucht: Das unerreichbare, meist tritt es in Gestalt einer Frau auf. Viola Percy, von der im Gefängnistrakt einige raunen, sie sei eine gute Partie, weil sie Sozialhilfe erhält, taucht am Silvesterabend im "Rampenlicht der Straßenlaterne" auf, "in einer Art Go-go-Outfit oder einem Mini-Regenmantel aus Plastik". Zu Besuch kommt diese Viola nie. Sie bleibt das Mädchen im Lichtkegel, draußen im Regen. Sichtbar, aber unerreichbar.

Der Werbefachmann im schönen San Diego bekommt einen Anruf von seiner Ex-Frau, die im Sterben liegt. Die Ärzte geben ihr nicht mehr viel Zeit. Sie wolle "jede Bitterkeit gegenüber bestimmten Menschen, bestimmten Männern" ablegen. Zu bereuen gäbe es wohl einiges, nur, noch während des Gesprächs fällt dem Werbefachmann ein, dass er den Namen der Frau nicht richtig verstanden hat. Ist es seine erste Frau Ginny oder seine zweite Frau Jenny, die sich mit ihm auf dem Totenbett aussöhnen möchte? Er hätte Grund, sich bei beiden zu entschuldigen, traut sich aber nicht, noch einmal nach dem Namen zu fragen. Die Reue bleibt ihm verwehrt. Selbst wenn er wollte, könnte er sich nicht aufrichtig entschuldigen.

Wenn Denis Johnson mit etwas abrechnet, dann ist es die Eitelkeit

Eine Lebenslüge, keine fundamentale, aber doch eine ernste, hängt über den Figuren dieser Geschichten. Am schlimmsten hat es die Literaturdozenten erwischt, die in den beiden letzten Geschichten, wie auch Johnson selbst, in Texas und New York mit meist mittelmäßig begabten Studenten ihre Texte besprechen sollen. "Doppelgänger, Poltergeist" beginnt mit dem Wutanfall eines solchen Dozenten seinem Fachbereichsleiter gegenüber: "Ich scheiß auf Sie. Und ihren Studiengang. Und diese Studenten. Es ist ein Verbrechen, sie auch noch zu ermutigen. Ich kündige." Hat es diesen Wutanfall wirklich gegeben? Rechnet Johnson hier noch einmal mit den in den USA institutionalisierten Schriftstellerkarrieren ab, die oft aus umstrittenen Masterprogrammen für kreatives Schreiben hervorgehen? Und, wenn ja, wie viel echte Reue und Wehmut steckt dann in den anderen Geschichten? Kann es sein, dass ihn solche Banalitäten bis zum Lebensende gewurmt haben sollten?

Die Erzählung ist selbst schon weiter, denn ihre Hauptfigur, der Literaturdozent, stellt sich dieselbe Frage, als ihm der Gedichtband eines ehemaligen Studenten in die Hände fällt und er sich darin wiederzuerkennen meint. "Ist es kindisch oder kleinlich, dass ich Verschiedenes empfand, mich vor allem aber ärgerte und mich ausgebeutet und missbraucht fühlte, als ich mich halb nackt in den Werken eines anderen herumlaufen sah?" Wenn Johnson mit etwas abrechnet, dann mit der Eitelkeit.

Roland Barthes forcierte den Tod des Autors als Denkmodell, das den Text für sich sprechen lassen sollte. Bedeutung entstehe nicht auf der Seite des Autors, sondern im Lesen. Denis Johnsons Geschichten können jederzeit für sich selbst stehen und doch ist in ihnen bei jedem Wort klar, dass hier ein Autor seine letzten Sätze schreibt, seinen Abschied von der Welt.

© SZ vom 19.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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