USA:Der amerikanische Albtraum

Paul Theroux reist durch den Süden seines eigenen Landes. Und stellt fest, wie abgehängt von der restlichen Gesellschaft die Menschen dort sind. Er lässt sich auf sie ein und entdeckt ein anderes Amerika.

Von Stefan Fischer

Ich erklär Ihnen mal den Süden", sagt Wendell Turley, eine Zufallsbekanntschaft, die der Reiseschriftsteller Paul Theroux in Gadsden, Alabama macht. Turley gehört zu den vielen Zugänglichen, beinahe Distanzlosen, mit denen Theroux für sein Buch "Tief im Süden" auf den vier mehrwöchigen Etappen seiner Tour durch die Südstaaten der USA in Kontakt kommt. Geradezu bizarr ist zum Beispiel das Gespräch mit einem Unbekannten auf dem Parkplatz vor einem Lokal in Columbia, der Hauptstadt South Carolinas. "Hallo. Wie geht's, wie steht's", will der stämmige Gast von Theroux wissen, empfiehlt ihm dann die Leber mit Röstzwiebeln und fragt unvermittelt: "Welcher Kirche gehören Sie an?" Freundlich, mit offener Neugier und überrascht darüber, dass Theroux sich eine Antwort erst zurechtlegen muss. Der Autor spricht von einer "raging politeness", einer Höflichkeitshysterie, die mitunter schwer zu unterscheiden ist von aufrichtigem Interesse.

Im Kontrast dazu trifft Paul Theroux, dessen Heimat in den Neuenglandstaaten im Nordosten der USA liegt, jede Menge abweisende Menschen; der Mittsiebziger fühlt sich hier, im eigenen Land, deshalb oftmals fremder als auf früheren Reisen durch Afrika oder Asien. Vor allem ärmere Leute, von denen es in den Südstaaten etliche gibt, "legen großen Wert auf ihre Privatsphäre - sie ist in vielerlei Hinsicht das Letzte, was ihnen geblieben ist, und das wollen sie sich keinesfalls auch noch nehmen lassen".

Theroux hat hier mehr Skrupel, in die Leben der Einheimischen einzubrechen. In China, Indien, Patagonien oder Schwarzafrika, als die kulturelle Differenz größer und er jünger war, ist ihm das leichter gefallen. Schneller als in anderen Weltgegenden begreift er sich als Voyeur, denkt viel darüber nach, ob er seine Landsleute im Süden womöglich verunglimpft. Er sei nicht gekommen, um jemanden zu bekehren, rechtfertigt er sich an einer Stelle sogar einmal, sondern um zuzuhören.

Die Südstaaten gehören zu den schönsten Regionen der USA - und zu den verstörendsten

Wendell Turley also, der Südstaatler, der den Süden versteht: "Wir sind anständige Leute. Nicht so gebildet wie ihr oben aus'm Norden. Aber anständig. Und gottesfürchtig." Und er schiebt hinterher: "Ob's Gott gibt oder nich - für solche Fragen braucht man Bildung." Um die ist es nicht gut bestellt in den Südstaaten. Die hohe Quote von Schulabbrechern, die wenigen Arbeitsplätze, der kaum vorhandene Tourismus, die schlechte Gesundheitsversorgung, Drogenkonsum und Waffenbesitz machen aus weiten Teilen von Mississippi, Louisiana, Arkansas, Alabama, Georgia und South Carolina prekäre Landstriche. Einige Countys erinnern Paul Theroux an Drittwelt-Staaten, von denen er manche zur Genüge kennt. "Es ist unmöglich, die Landstraßen im Süden zu befahren, ohne regelmäßig in Kontakt mit der amerikanischen Unterschicht zu kommen", schreibt er - das war einer der Gründe, weshalb er diese Reisen in den Jahren 2012 und 2013 unternommen hat. Über das Ausmaß der Hoffnungslosigkeit mancherorts ist Theroux jedoch verwundert, sogar schockiert. Wie er feststellt, sind die Armen in den Südstaaten "auf ihre eigene Weise ärmer, schlechter gestellt und verzweifelter als viele Menschen, die ich auf meinen Reisen in den notleidenden Regionen Afrikas und Asiens traf. Sie leben im abgeschiedenen Hinterland, in nicht mehr intakten Gemeinschaften, sterbenden Städten und wirklich am Rand der Gesellschaft." Weil es ein gänzlich anderes Amerika gibt - das kreative New York, das innovative Kalifornien, das saturierte Florida -, fällt dieses hier umso stärker aus dem Rahmen.

Theroux lässt sich ein auf das Fremde im eigenen Land; er geht jeden Sonntag in die Kirche, er besucht Waffenmessen und Footballspiele. Er isst, wo die Einheimischen essen. Es wäre einfach, sich über die Frömmigkeit zu mokieren und den Waffenstarrsinn. Theroux will verstehen, was dahintersteckt. Und beschreibt die Kirchen als das, was sie sind: die sozialen Mittelpunkte von Gemeinschaften. Und die Männer auf den Waffenmessen erlebt er nicht als schießwütige Cowboys, sondern als "bedrängt, geschwächt, mit dem Rücken zur Wand" stehend. Die Schwarzen sind seit jeher Außenseiter, und seit viele Arbeitsplätze nach Mexiko, China und Indien verlagert worden sind, gilt das auch für immer mehr Weiße. Zwei Gruppen von Verlierern, die sich gegenseitig kaum über den Weg trauen.

Weil Paul Theroux nicht von oben herab auf die Zustände blickt, sondern sich aufrichtig für die Menschen, ihre Geschichten und Meinungen interessiert, macht er kluge Beobachtungen. Und so hilft "Tief im Süden" sehr dabei, eine wichtige Facette der USA zu begreifen.

Paul Theroux: Tief im Süden. Reise durch ein anderes Amerika. Aus dem amerikanischen Englisch von Reiner Pfleiderer, Franka Reinhart und Sigrid Schmid. Mit Fotografien von Steve Mc Curry. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2015. 608 Seiten, 26 Euro. E-Book: 20,99 Euro.

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