Ursachenforschung:Kalte Wut in zwei Akten

Der Amokläufer Cho Seung-Hui aus Virginia hat Dramolette verfasst. Was sagt uns das? Kann aus den Stücken abgeleitet werden, was den Studenten zu seiner Tat trieb?

Tobias Kniebe

Da sind sie wieder, die Fragen, die sich nach jedem Amoklauf von Neuem stellen: Gab es Warnzeichen? Ist nicht vielleicht doch ein geheimes Muster zu erkennen, das harmlose Sonderlinge von jenen unterscheidet, die tatsächlich zu Mördern werden? Hektisch wird nun wieder nach Zeichen gesucht, die der 23-jährige Cho Seung-Hui hinterlassen hat, in denen bereits der Code seiner Tat verborgen sein könnte. Viele Hinweise hat Cho, der als fast pathologisch scheu und schweigsam beschrieben wird, offenbar nicht gegeben - und seine persönlichen Aufzeichnungen liegen derzeit allenfalls den Ermittlungsbehörden vor. Zwei Schriftstücke, die Einblick in seine Seele erlauben, sind jedoch im Internet bereits zugänglich.

virginia amoklauf seung cho

Seite 8 aus dem Stück "Richard McBeef".

(Foto: Foto: aol news)

Es handelt sich um zwei kurze Einakter, die Cho letzten Herbst für ein Theaterautoren-Seminar am Virginia Polytechnic Institute schrieb. Ian McFarlane, ein ehemaliger Klassenkamerad, der heute beim Onlinedienst America Online arbeitet, hatte sie noch auf der Festplatte und hat sie nun in den Nachrichtenblog seines Arbeitgebers gestellt. Dies könne helfen herauszufinden, schreibt er, "was eine Person zu einer solchen Tat treibt und wie man diese in Zukunft verhindern kann." Kann es das wirklich?

Die Stücke enthüllen eine ungeheure Wut

"Richard McBeef" und "Mr. Brownstone", so die Titel der beiden Stücke, enthüllen auf zehn beziehungsweise elf Seiten tatsächlich eine ungeheure Wut. In beiden Texten stehen Teenager im Mittelpunkt, die in ihren Dialogen ihrem Hass auf Erwachsene drastisch Luft machen. Der dreizehnjährige John liefert sich in "Richard McBeef" eine Redeschlacht mit seinem Stiefvater. Der versucht zunächst, ihn zu belästigen, woraufhin ihn John als pädophilen Perversen, als Mörder seines Vaters, als McDonald's-Fresser und Loser bezeichnet,ehe er versucht, ihn mit einem Müsliriegel zu ersticken.

"Mr. Brownstone" wiederum ist eine Art Mathematiklehrer aus der Hölle, der offenbar zwei Jungen und ein Mädchen, alle drei siebzehn Jahre alt, vergewaltigt und gedemütigt hat. Sie reden seitenlang davon, dass er sterben muss, aber dazu kommt es nicht - Brownstone behält die Oberhand und nimmt ihnen am Ende sogar noch die Millionen ab, die sie gerade im lokalen Spielcasino gewonnen hatten.

Glaubt man den Erinnerungen des Klassenkameraden, dann hat Cho sich im Seminar kaum zu Wort gemeldet, und seine Mitstudenten waren von der Unbeholfenheit und dem kruden Gestus des Dampfablassens in diesen literarischen Versuchen so befremdet, dass eine Diskussion oder Analyse im Klassenraum praktisch nicht stattfand. Auch damals muss also schon klar gewesen sein, was man beim Lesen heute sofort spürt: Dass dies Einblicke in eine verwundete Seele sind. Nur: Die genauere Analyse zeigt eben gerade nicht, dass hier der Weg der gewaltsamen Gegenwehr schon gedanklich erprobt wurde.

Zwar werden in "Richard McBeef" Hämmer gegen Köpfe geworfen und eine Motorsäge gezückt - allerdings von der Mutter der Hauptfigur. Der 13-jährige Held ist rhetorisch gewandter und attackiert seinen Stiefvater gerade nicht mit Gewalt, sondern mit Worten. Er ist es, der am Ende sterben muss, weil der Stiefvater sich gegen seine Beleidigungen nicht mehr anders zu helfen weiß. In der anderen Geschichte steht ebenfalls das solidarische Schwelgen im Opferstatus im Vordergrund - Morddrohungen bleiben reine Rhetorik.

Keine ungewöhnlichen Muster des Hasses

Vergleicht man diese Stücke mit den Schulaufsätzen, die die Columbine-Amokläufer Eric Harris und Dylan Klebold vor ihrer Tat geschrieben haben, wirkt Cho naiver und harmloser: Harris zitierte Hobbes und Nietzsche und lernte Goethe-Gedichte auswendig, und in einem Klebold-Schulaufsatz marschiert ein Rächer im schwarzen Trenchcoat in die Stadt, zückt mehrere automatische Waffen und mäht seine Feinde nieder, dass das Blut nur so spritzt. Ähnliches findet man bei Cho nicht. Auch ungewöhnliche Muster des Hasses sind in seinen Dialogen kaum erkennbar: Seine Figuren schimpfen auf pädophile katholische Priester und auf Michael Jackson, auf Körperfett im Allgemeinen und auf McDonald's-Burger im Besonderen, aber mit diesen Feindbildern steht er kaum alleine da.

Eine Passage, in der von den Verstopfungsproblemen des verhassten "Mr. Brownstone" die Rede ist, streift gar die Grenze zur absurden Komik. Den Namen, einen Slangausdruck für Heroin, hat Cho offenbar von dem gleichnamigen Guns'N'Roses-Song übernommen, dessen Text er zitiert. Daraus kann man der Band aber auch keinen Strick drehen - wenn überhaupt, dann geht es hier um die Gefährlichkeit der Droge, die Cho auch zustimmend zitiert: Der Lehrer Mr. Brownstone, schreibt er, sei schlimmer als das schlimmste Suchtproblem.

Anscheinend wurde Cho Seung-Hui wegen dieser Texte tatsächlich zur Studentenberatung geschickt - was dort geschah, ist allerdings noch nicht geklärt. "Wir haben diese Hinweise keineswegs ignoriert", sagt Professor Lucinda Roy, die Leiterin des English Department am Virginia Tech Institute. "Beim kreativen Schreiben kann man aber nie sicher sein, was Vorstellungskraft und was Beschreibung der Wirklichkeit ist, und wo die Grenze zwischen Phantasie und Realität verläuft." Wohl wahr - und wahrscheinlich kam der zuständige "Student Counselor" am Ende exakt zu demselben Schluss. So sehr man es sich wünschen mag - in Schreibübungen und Aufsätzen werden wohl niemals zweifelsfreie Zeichen zu finden sein, die auf eine künftige Bluttat verweisen.

Link zu den Theaterstücken

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