Urs Faes: Paarbildung:Dunkler Schwarm

Vor 16 Jahren war sie seine Geliebte, nun treffen sie sich im Krankenhaus wieder - er als Therapeut, sie als Krebspatientin: Urs Faes' Roman "Paarbildung".

Meike Fessmann

Sechzehn Jahre ist es her, dass Andreas Lüscher seine frühere Geliebte zum letzten Mal gesehen hat. Lange hat er nicht mehr an sie gedacht, doch das Bild ihrer ersten Begegnung ist sofort da, als er ihren Namen auf dem Deckblatt einer Krankenakte liest. Damals war sie eine junge Frau von achtzehn Jahren, eine leuchtende Erscheinung im weißen Sommerkleid, er vertrat als Student einen Lehrer ihrer Schule. Vier Jahre später trafen sie sich auf der Straße wieder, mitten in den Wirren des Zürcher Häuserkampfes, und wurden ein Paar.

Rinecker Proton Theraphy Center in München, 2010

Es ist vor allem die Enteignung des eigenen Körpers in einem Krankenhaus, die Urs Faes genau nachvollzieht. Und mittendrin ein Wort, das Meret freut: "Paarbildung, ein schönes Wort für den Strahlenabsorptionseffekt."

(Foto: Catherina Hess)

Mittlerweile ist er vierundfünfzig und arbeitet als Gesprächstherapeut auf der onkologischen Station eines Zürcher Krankenhauses. Ja, die Patientin mit dem Mammakarzinom ist tatsächlich jene Meret Etter, die er einmal geliebt hat. Andreas gerät in einen Strudel widersprüchlicher Gefühle. Da sind die Erinnerungen an die fröhliche Militanz der jungen Frau, an ihr Zartgefühl und an ihre Versunkenheit beim Harfespiel, aber da sind auch die Ängste, den Anforderungen eines Wiedersehens unter so schwierigen Bedingungen nicht gewachsen zu sein. Am liebsten würde er sich aus dem Fall heraushalten, wie er sich immer aus allem herausgehalten hat. Doch er weiß, dass das schäbig wäre. Also beschließt er, ihr beizustehen.

Der neue Roman des 1947 in Aarau geborenen Urs Faes, der auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises war, ist nicht ganz frei von Betulichkeiten und nimmt dennoch für sich ein. Denn er schildert anschaulich und behutsam, was es bedeutet, an Krebs erkrankt zu sein.

Es ist vor allem die Enteignung des eigenen Körpers, die der Roman äußerst genau nachvollzieht. So kann er mit vergleichsweise schlichten Mitteln beschreiben, was in Sachbüchern meist zu kurz kommt und in esoterischen Ratgebern vernebelt wird: dass es in der Krebstherapie tatsächlich einen medizinischen Fortschritt gibt, der aber niemals als bloßer Segen beim Kranken ankommt. Die ganze Existenz wird der medizinischen Apparatur unterworfen, und dabei geht es beileibe nicht nur um die Apparate selbst, sondern auch um die Nomenklatur, die für das medizinische Personal selbstverständlich ist, den Kranken jedoch ausgrenzt. "Fibrosen, Nervenschädigungen, Depigmentierung - die Wörter flattern durcheinander, ein dunkler Schwarm, fremd und vereinnahmend." Und mittendrin ein Wort, das Meret freut: "Paarbildung, ein schönes Wort für den Strahlenabsorptionseffekt." Es gab dem Roman seinen Titel.

Es ist vor allem der Konstellation der beiden Hauptfiguren zu verdanken, dass der Roman gelingt. Meret Etter, eine intelligente und klar denkende Frau, hat in Andreas Lüscher einen ebenso versierten wie interessierten Zuhörer, dem sie sich nach anfänglicher Distanz auch zu öffnen vermag. So rekonstruieren die beiden nicht nur ihre gemeinsame Liebe, sondern all die Ereignisse eines Lebens, die durch die Krankheit in anderem Licht erscheinen.

Urs Faes, der mit einem bezahlten Schreibauftrag die Prozesse auf einer radioonkologisichen Station begleitet und analysiert hat, erzählt nicht nur von der Krebserkrankung einer Frau, sondern auch davon, was es bedeutet, in einer solchen Situation allein zu sein. Meret Etter sehnt sich nach einem geteilten Alltag. "Du warst nicht da" ist der Basso continuo, der die Beziehung zu Andreas charakterisiert. Erst ganz am Ende erfährt er, warum sie ihn vor Jahren gebraucht hätte, als er bei ihrer letzten Begegnung nur von seinen Karriereplänen sprach, ohne zu bemerken, dass sie etwas auf dem Herzen hatte. Nun kann er das Versäumte nachholen. "Paarbildung" ist ein leiser Roman, sparsam erzählt und im Ganzen überzeugend, trotz gelegentlicher Ausflüge ins allzu stimmig Gefügte.

URS FAES: Paarbildung. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 192 Seiten, 19,90 Euro.

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