Urbanität in den USA:Strom der Illusionen

South Bronx, 1970

Verkapselte Zeit: Kinder spielen 1970 in der South Bronx auf dem Wrack eines "Windsor". Das Modell des Herstellers Chrysler wurde in den USA bis 1961 gebaut.

(Foto: Camilo Vergara)

Schön müssen Fotos nicht sein, nur wahr: Camilo Vergaras Chroniken amerikanischer Innenstädte zeigen, wie Verelendung und Gentrifizierung die Randzonen der Gesellschaft prägen. In Braunschweig sind seine Bilderfolgen nun zu sehen.

Von Richard Fleming

Die Ecke Adam Clayton Powell Jr. Boulevard, 130. Straße in Manhattan liegt beinahe exakt im geografischen Mittelpunkt von Harlem. Hier steht der Fotograf Camilo José Vergara an der Straße und schaut sich mit verdutztem Gesicht um.

Mit seinen 70 Jahren hat er die Straßen, Sehenswürdigkeiten und Avenues hier in den vergangenen 40 Jahren immer wieder fotografiert. Er kennt jede Ecke. Doch jetzt kratzt er sich am Kopf. "Ich wollte eigentlich etwas zeigen", sagt er. "Aber ich sehe es nicht."

Was auch immer da war, ist verschwunden. Er scheint wirklich bestürzt zu sein. "Es ist einfach nicht da. Deshalb war es so verdammt verwirrend!" Er eilt zurück über den Gehweg und die Straße. Auf der östlichen Seite des Boulevards erstreckt sich über zwei Blöcke eine Wand aus blau gestrichenem Sperrholz, die Rückseite einer riesigen Baustelle.

Als ob ein großer Baum im Wald gefällt worden wäre, damit die tief stehende Sonne entlang der Nordseite der 132. Straße auf die roten Backsteine und den Sandstein scheinen kann, der so typisch ist für Harlem. Durch ein Loch im Zaun kann man die große Grube sehen, darin Zement für ein neues Fundament. "Hier war das Lafayette Theater. Genau hier. Und jetzt ist es weg."

Zeitraffer der Moden, Politik und Stadtplanung

Den chilenisch-stämmigen Vergara nur als Fotografen zu bezeichnen, wäre grobe Untertreibung. Er ist zu gleichen Teilen Ethnograf, Soziologe, Archivar und Vollzeit-Chronist der zerfallenden amerikanischen Stadt. Die Fotografie nie genug, auch nicht der Journalismus oder die Wissenschaft.

Für sich genommen erscheinen seine Bilder auch oft banal, nicht viel mehr als gewöhnliche Straßenansichten, bevölkert von Minderheiten und gesäumt von jenen kleinen Geschäften der verwahrlosten amerikanischen Innenstädte: Friseursalons, Eckkneipen, billige Diners und Burgerläden.

"Ein Fotograf ist jemand, der Wert auf schöne Bilder legt", sagt Vergara. "So jemand bin ich nicht." Trotzdem hat Vergara sechs bedeutsame Fotobände veröffentlicht und 2002 das sogenannten Genie-Stipendium der MacArthur-Stiftung bekommen. Im Juli 2013 wurde er als erster Fotograf mit der National Humanities Medal ausgezeichnet.

Chronist des Wandels

In seinem neuesten Buch "Harlem: The Unmaking of a Ghetto" berichtet er, wie er als "Immobilienfotograf" abgetan wurde, als er begann, die Linse auf die gebaute Umwelt zu richten. Zu seiner täglichen Routine gehört es, mit einer Kamera in der Hand durch Amerikas Städte zu laufen. Sein Archiv ist ein unvergleichbarer Katalog des Wandels in den marginalisierten urbanen Räumen der USA.

Ein Ausflug nach Camden, New Jersey, zusammen mit Vergara ist wie eine Fahrt durch eine Folge der Serie "The Wire". Ganz im Gegensatz zur Immobilien-Boomtown Harlem, ist die kleine, schrumpfende Stadt ein schäbiger, heruntergekommener Ort am Flussufer gegenüber von Philadelphia. Als Vergara sich seinen Weg über verwucherte Gehwege an zerfallenen Häusern vorbei sucht, erzählt er, dass "Camden immer nur existierte, um die Bedürfnisse von Philadelphia zu bedienen."

Die Gebäude sind seine Kinder

Früher gab es hier Druckereien, Reedereien und ein wenig Industrie, doch ganze Branchen verschwanden ab den Sechzigerjahren und mit ihnen die Jobs. Auf einigen Straßen, in die Vergara nun zurückgekehrt ist, sind die einzigen Zeichen von Wirtschaftsaktivität Prostituierte und eine Reihe von Crack- und Heroindealern, die von morschen Bänken springen und sich dem Auto nähern, weil hier sonst nur Kunden auf ihrem berüchtigten Straßenblock entlangfahren.

Immer wieder hält Vergara seine Kamera auf verlassene Grundstücke. Er richtet den Ausschnitt mithilfe von Bildern aus, die er bei früheren Besuchen gemacht hat. Die alten Aufnahmen zeigen bescheidene Häuser, wo jetzt nur noch Berge von Schutt zu sehen sind. Die Stadt scheint vor seinen Augen zu verschwinden.

Wieder und wieder kehrt Vergara zu den gleichen Straßen und Ghettos zurück. Er hat vor allem in New York City, Camden und Newark, New Jersey, in Detroit, Chicago, Los Angeles, und in Richmond, Kalifornien, gearbeitet. Immer in innerstädtischen Vierteln, deren Namen nur kennt, weil sie als Tatorte in den Nachrichten auftauchen. Er hat festgehalten, wie Siedlungen gebaut und wieder abgerissen wurden, er dokumentierte den langsamen Verfall ganzer Blöcke, die einsetzende Flut der Gentrifizierung und die Pfützen der Armut, wenn sie verebbt ist.

Urbanität in den USA: Um den Verfall und den Aufstieg seiner Viertel aufzuzeichnen, vergleicht Vergara die Chroniken der Vergangenheit mit dem aktuellen Zustand vor Ort.

Um den Verfall und den Aufstieg seiner Viertel aufzuzeichnen, vergleicht Vergara die Chroniken der Vergangenheit mit dem aktuellen Zustand vor Ort.

(Foto: Richard Fleming)

Seine Bildergruppen, die ein einzelnes Gebäude oder einen Gehwegstreifen zeigen, sind Zeitraffer. Sie zeigen zugleich nichts und verkapseln alles von Mode und Ernährung über Stadtplanung bis hin zur Kommunalpolitik. In diesen Fotografien, zwischen denen manchmal Jahrzehnte liegen, zeichnet sich zwischen Vergara und bestimmten, unauffälligen Gebäuden das gleiche Verhältnis ab, das die meisten Menschen zu ihren Kindern haben.

Er notiert ihre kleinen Fortschritte, ihre fortschreitenden Veränderungen, und dokumentiert sie. Es ist eine merkwürdig intime Beziehung mit seiner urbanen Umgebung. Die Schrift über den Kirchenfassaden, die Mahlzeiten auf den Wandtafeln, die abblätternde Farbe und die Schuhe der Passanten spiegeln die Gezeiten und den Strom der Hoffnungen, Errungenschaften und Illusionen. "Wenn du ein Gebäude fotografierst", sagt Vergara, "dann beginnst du eine Flugbahn zu zeichnen."

Auslöschung der Geschichte durch Eigentumswohnungen

Zurück auf dem Adam Clayton Powell Boulevard scheint Vergara das Verschwinden des Lafayette Theaters persönlich zu nehmen. Es ist Teil der "Disneyfizierung" der Nachbarschaft, wie er es nennt. Harlem werde desinfiziert, seine reiche Geschichte und Architektur würde durch Eigentumswohnungen ausgelöscht werden, sein Erbe konzentriert in einigen wenigen unantastbaren Ikonen wie dem Apollo Theater, dem Emblem von Harlems bekannter 125. Straße.

"Wir haben einen Ort als Hort der Geschichte auserkoren, damit wir den Rest verändern können", sagt Vergara. Interessanterweise war das verschwundene Lafayette das erste New Yorker Theater, das ein Publikum aller Hautfarben anzog - und zwar schon 1912, mehr als zwanzig Jahre vor dem Apollo Theater.

Sorge um eine historische Landschaft

Barack und Michelle Obama auf einer Wandmalerei in Detroit.

Zeitstrahl schwarzer Helden: Barack und Michelle Obama auf einer Wandmalerei in Detroit.

(Foto: Camilo Vergara)

Vergara gibt durchaus zu, dass das neue Harlem mit seinen Luxus-Wohnungen und Espresso-Bars eine bessere Lebensqualität bietet als das Harlem der ausgebrannten Mietskasernen und zugemüllten Brachen. Er sorgt sich dennoch um die historische Landschaft und ihre Kultur. In diesem Sinne schreibt er eine alternative Geschichte, eine, die da Primat vom unerschütterlichen Glauben an Fortschritt, Wiederaufbau und Entwicklung hinterfragt.

Die 125. Straße, einst ein turbulenter Mischmasch aus Tante-Emma-Läden, Imbissen und Afro-Haarsalons, war ein Ort, dessen kulturelles Erbgut immer deutlich zu sehen war. Im neuen Harlem sind einige dieser Spuren noch sichtbar, aber der Blick wird von den immer gleichen großen Handelsketten dominiert, die es in jedem Vorstadt-Einkaufscenter gibt.

In der Nähe der Lenox Lounge, dem aufgelassenen Art-Deco-Jazzclub ein paar Blocks weiter südlich, zeigt Vergara auf die andere Straßenseite. "Ich habe Bilder von einem Typen neben einer Vogelscheuche, in einem Vorgarten in diesem Block", sagt er. "Jetzt ist da ein Starbucks."

Die Gentrifizierung von Harlem und der Zusammenbruch von Camden sind nur zwei der unzähligen Geschichten, die Vergara mit seinem riesigen Bilderarchiv erzählen kann. Darin geht es nicht nur um die Gezeiten innerhalb von Vierteln. Eine Ausstellung in der New Yorker Historical Society zeigte im Jahr 2012 Wandmalereien von Martin Luther King Jr. aus dem ganzen Land.

Der Kontext, in dem die Abbildungen des unantastbaren Bürgerrechtshelden stehen, ist ein gefundenes Fressen für Soziologen. In Latino-Nachbarschaften erscheint King dunkelhäutiger und wird oft zusammen mit bekannten Latinos dargestellt. Andere, ältere Wandbilder zeigen ihn mit Malcolm X, jüngere mit Barack Obama. Aus der Gesamtheit der Bilder ergibt sich ein Zeitstrahl schwarzer Helden, die je nach Mode auf- und wieder abtauchen, sich aber immer in Kings Ruhm sonnen dürfen.

Sehnsüchte eines Glaubens mit geringem Budget

In "How the Other Half Worships" (Rutgers University Press) arbeitet sich Vergara in die Typologie innerstädtischer Kirchenfassaden ein. Das Buch ist eine demografische Goldmine, es zeichnet die Hoffnungen und Sehnsüchte eines Glaubens mit geringem Budget nach. Bescheidene Betonziegelgebäude versuchen sich an demütigen Kirchtürmen. Simse und bunte Kirchenfenster werden angebracht, renoviert und dann wieder ausgelöscht. Die Beschilderung wechselt von Hebräisch zu Englisch zu Spanisch.

"Ein einmaliger Schnappschuss ist einfach nicht so interessant, denn was sagt er schon aus?", fragt Vergara. "Er zeigt, dass es hier schöne oder interessante Dinge gibt, aber er vermittelt einem kein Zeitgefühl. Und eben das gibt den Dingen erst ihre Bedeutung."

Camilo José Vergara "Tracking Time - Documenting America's Post-Industrial Cities". Bis 28. 12. im Museum für Fotografie, Braunschweig. Info: http://www.photomuseum.de

Übersetzung aus dem Englischen: Julian Dörr

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