Urbanism:Ende der Ewigkeit

Aufbauen, abbauen, immer wieder: Eine Münchner Ausstellung preist temporäre Architektur

Von Laura Weißmüller

Das Tuten klingt verdammt nah. Doch die Händler neben den Gleisen ängstigt es überhaupt nicht. Seelenruhig sortieren sie ihre Ware, schälen Mandarinen, sortieren Mangos. Erst dann stehen die Männer und Frauen auf, rücken ihren Schemel beiseite, schieben ihren Karren zurück, klappen die Überdachung ein - und lassen den Zug passieren. Er fährt mitten durch den Talad Rom Hoob, den sogenannten Schirmmarkt in Thailand.

Was auf den ersten Blick gefährlich aussieht, ist eine fein abgestimmte Choreografie zwischen Bahn und Markthändlern, die sich acht Mal am Tag wiederholt und inzwischen eine Touristenattraktion ist. Mit Kameras verfolgen die Zuschauer, wie sich der Markt zurückzieht und wieder ausbreitet, als folgte er Ebbe und Flut.

Zum indischen Kumbh-Mela-Fest bewohnen fünf Millionen Menschen für 55 Tage eine Stadt

Das Schauspiel in Thailand funktioniert dank einer Architektur, die nicht auf Betonfundamenten und Ewigkeitsansprüchen fußt, sondern sich mit flexiblen Strukturen und temporären Lösungen zufriedengibt. Ephemeren Urbanismus nennt das Architekturmuseum München dieses Phänomen so wolkig wie blutleer, zeigt dann aber in einer Schau, wie groß die Bandbreite ist: Das Sukkot gehört dazu, das jüdische Fest, für das kleine Laubhütten gebaut werden, der Bauernmarkt, der jeden Samstag vor dem Münchner Museum stattfindet, aber auch Großevents wie das Burning- Man-Festival, das gerade 70 000 Menschen in die Wüste von Nevada gelockt hat, und das Oktoberfest, das von diesem Wochenende an wieder Hunderttausende Besucher täglich erwartet. Sie gipfelt in geradezu unvorstellbare Menschenansammlungen: Zum Hadsch reisen jährlich 2,5 Millionen Pilger nach Mekka, und im Vergleich zum hinduistischen Fest Kumbh Mela in Indien ist das noch wenig. Dort entsteht alle zwölf Jahre so etwas wie eine Pop-up-Megacity: Fünf Millionen Menschen bewohnen für 55 Tage eine Stadt, die in nur sieben Wochen entstanden ist. Dazu kommen - an einem gut besuchten Tag - 30 Millionen Pilger. Nach dem Fest wird alles wieder abgebaut, zurück bleibt ein Flussbett, das sich einige Monate später wieder mit Wasser füllt.

Kumbh Mela war der Ausgangspunkt für die Studie von Rahul Mehrotra von der Harvard University und Felipe Vera vom Centro de Ecología, Paisaje y Urbanismo in Santiago de Chile, auf der die Münchner Ausstellung basiert. "Es gibt die Illusion, dass Architektur von Dauer ist", sagt Mehrotra. Allein seine Heimatstadt Mumbai könne das widerlegen. Dort seien 50 Prozent informell und temporär, so der Architekt und Stadtplaner Mehrotra. "Tatsächlich aber befindet sich jede Stadt in einer ständigen Transformation. Das Problem ist, dass wir temporäre Lösungen nicht ernst nehmen."

Dabei sind gerade diese so wichtig wie nie zuvor. Aktuell befinden sich 63 Millionen Menschen auf der Flucht. Sie leben in Zeltstädten, Containern und Baracken - wenn sie Glück haben. Zum Vergleich: Es ist, als befände sich ganz Italien auf der Flucht. Die Flüchtlinge dürften auch in Zukunft nicht weniger werden. Im Gegenteil. Klimawandel, politische Unruhen und Naturkatastrophen werden die Migrationsströme nicht abreißen lassen.

Mit Architektur für die Ewigkeit ist dem nicht beizukommen - und mit allzu großen Baumeister-Egos auch nicht. Tatsächlich müssen die Bauten so etwas sein wie architektonische Katastrophenhelfer: Möglichst schnell am Ort und so flexibel, dass die Gebäude auf die jeweiligen Bedingungen reagieren können - auf die der Flüchtlinge und ihre Bedürfnisse, aber auch auf die der Nachbarn und der Umwelt. Wer sich an den Spätsommer 2015 in München erinnert und daran denkt, wie fast die gesamte deutsche Baulandschaft, inklusive Architekten, in Schockstarre verharrte, als die Zahl der Flüchtlinge stieg und stieg, der weiß, wie viel es noch zu lernen gibt über temporäre, flexible und nicht zuletzt kreative Lösungen.

Die Ausstellung in München ist da ein großes Glück. Nicht nur, weil sie das Thema aufgreift, sondern eben auch, weil sie zeigt, welche geradezu euphorisierende Wirkung eine solche Architektur haben kann. Das Burning-Man-Festival begann in den Achtzigerjahren mit etwa 200 Teilnehmern, um nun jährlich mit ihren Fantasiebauten und -fahrzeugen an der Utopie eines Lebens ohne soziale Schranken zu basteln. Es sei, so der Katalog, "die Landschaft einer radikalen Inklusion".

Gerade eine solche Offenheit und Zugänglichkeit dürften in Zeiten immer brutalerer Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsschichten den Reiz vieler solcher Events ausmachen. Leben sammelt sich dort, wo Zugangsschranken fehlen und sich Nutzungen überlagern können, wie das Beispiel des Schirmmarktes zeigt. Tatsächlich schafft damit die temporäre Architektur mehr als nur den Rahmen für fröhliche Feste. Sie offenbart die Soft Skills eines Ortes. Denn nicht die Häuser und Straßen geben einer Stadt ihren Charakter, sondern das Leben dazwischen. Oder wie der US-Soziologe Richard Sennett in seinem Aufsatz "The Open City" schreibt: "Die offene Stadt fühlt sich mehr wie Neapel an, die geschlossene wie Frankfurt."

Das bedeutet nun allerdings nicht, dass das Temporäre in der Architektur gegen das Dauerhafte ausgespielt werden müsste. Außer in den Ferien lebt es sich hinter festen Mauern einfach mal besser als unter Zeltplanen. Und es ist auch kein Plädoyer für Regellosigkeit. Tatsächlich hat das Burning-Man-Festival viele Regeln, auch das indische Kumbh-Mela-Fest würde im Chaos enden ohne die strikte Struktur, die sich an Le Corbusiers betongewordener Idealstadt Chandigarh in Nordindien orientiert.

Die Schau zeigt aber, wie die Architektur davon profitieren kann, wenn sie ihr Ablaufdatum und ihren Abbau mitdenkt. Weil sie dann meist nachhaltiger wird und mehr soziale Nähe entsteht. Wer das nicht glaubt, dem sei ein Besuch auf dem Oktoberfest empfohlen. Erstaunlich, wer da alles auf einer Bank Platz findet.

Does Performance Matter? Ephemeral Urbanism. Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne. Bis 18. März 2018

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