Ungarische Literatur:Wenn die Eisnadeln schmelzen

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Miklós Bánffy: In Stücke gerissen. Aus dem Ungarischen von Andreas Oplatka. Zsolnay Verlag, Wien 2015. 400 S., 26 Euro. E-Book 19,99 Euro. (Foto: Verlag)

"In Stücke gerissen" - Der Abschlussband der großen Siebenbürgen-Trilogie von Miklós Bánffy führt den Helden in den Weltkrieg.

Von Ulrich Baron

Was an einem farbentrunkenen Spätsommernachmittag begonnen hatte, endet im Lichte eines Abendhimmels, dessen untere Ränder blutrot entflammt sind: "Träge, violette, dunkle Berge erhoben sich vor dem karmesinroten Himmel." Die Menschen darunter sind schon feldgrau gewandet und dabei, aus der Landschaft ihrer Heimat zu verschwinden. Der Blick erfasst "lange Bergkämme mit Steilhängen. Riesige Särge, die Särge von Völkern." Während sich 1914 die Unheilsdrohung, die den ungarischen Originaltiteln seiner dreibändigen "Siebenbürger Geschichte" eingeschrieben war, zu erfüllen beginnt und sein Protagonist, der Graf Bálint Abády in den Krieg zieht, beweist Miklós Bánffy (1873-1950) noch einmal, dass er als Autor ebenso von seiner Ausbildung als Maler profitiert hat wie von seinen Erfahrungen als Politiker und Jurist und Leiter der Oper und des Nationaltheater in Budapest.

Hinter der Larve des Lächerlichen und Erbärmlichen lugt die Trauer um das Verlorene hervor

"Du wurdest gewogen", "Und zu leicht befunden", "In Stücke wirst du gerissen" ließen sich jene drei Titel übersetzen. So flammend dieses Menetekel über der Trilogie steht, so feinsinnig beschreibt Bánffy, wie die "Farbe der Nachtviolen" in einem neuen Morgen schwindet: "Das Violett wich einem Grauton, der ins hauchdünn Grüne überging, in eine bei ihrer Mattigkeit in der Höhe nicht mehr ausdrückbare Farbe." Inmitten der Wälder Siebenbürgens badend, erscheint die immer wieder verlorene Geliebte des Helden als Nymphe, ja als Artemis: "Die Flut, die an ihrer Schulter auseinanderspritzte, zerfiel in den dünnen Sonnenstrahlen in unzählige Diamanten. Und dann zeichnete sich im Hintergrund jäh ein Regenbogen ab, als hielte sie ihn mit ihren Händen in die Höhe."

Die ästhetische Verklärung der verlorenen Heimat, verlorenen Jugend und verlorenen Liebe, die hier auf die Spitze getrieben wird, steht in Kontrast zu Bánffys Verdammungsurteil über Ungarns Führungsschicht und seine eigene Klasse, die all dies - oft im wörtlichen Sinne - verspielt hatte. "Weder die besitzende aristokratische Oberschicht noch insbesondere die verarmte, in Staatsämtern untergekommene adelige Gentry erkannte die außenpolitische Gefährdung der Monarchie und die Gebrechlichkeit ihrer Vorherrschaft innerhalb des eigenen Landes", urteilt Andreas Oplatka im Nachwort zu seiner glänzenden, oft ironisch funkelnden Übersetzung.

Bánffys Kritik setzt da an, wo der Glanz der Adelsbälle und Jagdgesellschaften sich im elenden Alltag des Budapester Parlaments, in lähmender Obstruktionspolitik und kindischer Rechthaberei verliert. So erklärte im ersten Band der rumänische Abgeordnete Timişan dem Grafen Abády, der für die Befreiung der Landbevölkerung aus der Zinsknechtschaft kämpft, warum er die Ausplünderung seines Volkes durch dessen aufstrebende Eliten dulde: "Ihre Vorfahren, Herr Graf, machten ihre Eroberungen mit dem Schwert, woraus der ungarische Grundbesitz entstanden ist. Heute gibt es andere Mittel. Wir brauchen eine besitzende Klasse." Gewiss sei der Aufstieg des ungarischen Adels "dekorativer und malerischer" gewesen als die Landnahme durch Wucherzinsen, meint der Abgeordnete ironisch: "Doch wir, bitte, sind graue, bescheidene, moderne Leute!"

Gar nicht grau ist der pausbäckige, unrettbar anglophile Istike Kamuthy. Er bringt einen Klausenburger Ball, auf dem die adligen Damen und Fräuleins Siebenbürgens um die originellste Kopfbedeckung wetteifern, durcheinander, als er in einem feuerroten Rock für Hundejagden erscheint - einem "wundervollen Rock aus so hartem Stoff wie Blech". Der kleine Isti ist eines der vielen Prachtexemplare aus der Meute adliger Trottel, Säufer, Schürzenjäger und Schwadroneure, die Bánffys Trilogie vorführt. Aber hinter der Larve des Lächerlichen und Erbärmlichen lugt immer wieder auch das Tragische hervor.

Lászlo, der musisch hochbegabte Jugendfreund des Grafen Abády, kommt nicht darüber hinweg, dass seine Mutter ihn als Kind verlassen hat. Er trinkt, er verspielt sein Vermögen und schwindet am Ende dahin - geliebt und bemuttert nurmehr von der Tochter eines jüdischen Krämers, der er in all seinem Elend doch wie ein Märchenprinz erscheint. Dass die letzten Liebesbekundungen einem Vertreter der alten Oberschicht Ungarns ausgerechnet von einer Jüdin zuteil wurden, musste im Erscheinungsjahr 1940 als deutliches Statement verstanden werden.

Ein anderer Bekannter Abádys hat sich mit den Resten seines Erbteils auf einen verfallenen Herrensitz zurückgezogen und unternimmt mit Hilfe von Landkarten und Büchern imaginäre Weltreisen, während der Balkankrieg schon das Ende seiner Welt einläutet. Abádys Mutter stirbt als die kleine Königin, die sie immer war, im Kreise ihrer Pferde, und im letzten Abschiedswinken ihres Sohnes öffnet sich eine Perspektive, die über den zeitlichen Rahmen der Erzählung hinausweist. Denn was der Held am Ende ahnt, den Zerfall des Reichs, die Zerstückelung Ungarns im Vertrag von Trianon und damit den Verlust der Siebenbürgischen Heimat an Rumänien, war für Miklós Bánffy durchlebte Geschichte, als er 1934, 1937 und 1940 seine Trilogie veröffentlichte.

Als der Abschlussband erschien, der nun auf deutsch "In Stücke gerissen" heißt, hatten sich hinter den Särgen des Ersten Weltkriegs schon neue Massengräber aufgetan. So war Bánffys Trilogie Verurteilung und Mahnung zugleich. Weil deren Vergeblichkeit dem Autor wohl klar war, kulminiert seine Ästhetisierung der verlorenen Heimat in einem Bild, das Abády und Adrienne "wie das erste menschliche Paar im Garten Erden" erscheinen lässt. Bisweilen war in der Triloge - etwa in jener Szene des zweiten Bandes, in der einige Vertreter der Jeunesse dorée Siebenbürgens beschwipst und in voller Balltoilette - eine Kuh entführen - das Leben bisweilen wie ein Spiel erschienen. Im Schlussband nun verabschiedet sich der wunderliche Baron Gazsi, der damals eine komische Hauptrolle spielte, ohne viel Aufhebens von einer Welt, die er zugleich als zu leicht und zu schwer befunden hat: "Kann sein, dass es scheußlich ist," so sein schriftlicher Kommentar zum Abschiedsgeschenk für Abády, "aber wenn du es nicht magst, brauchst du es nicht zu benutzen." Das gilt wohl nicht nur für das beigefügte Zigarettenetui, sondern auch für das Leben, wie Baron Gazsi es sah.

Draußen im Garten liegt da noch Schnee: "Wie wundervoll ist der Schnee zu solcher Zeit, bevor er verschwindet", denkt Abády. Und so subtil Bánffy die Farben seiner Welt beherrschte, so virtuos fasst er hier die Vanitas in ein funkelndes Schwarzweißbild: "Er zerfällt in winzige Spitzen aus Eis, es sind Tausende glänzender, schaumartiger Nadeln, die sich alle der Sonne, dem Sonnenlicht zuwenden . . . als würde er von einer heimlichen Sehnsucht, einem vergeblichen und tödlichen Wunsch dem Licht, der Helle und dem Glanz entgegengeschleudert. Bálint kam es beinahe wie ein Gleichnis vor, während er an seinen Freund, den Selbstmörder, dachte."

Jene winzigen Spitzen aus Eis erscheinen als ein Gleichnis nicht nur für den verlorenen Freund, sondern auch für Ungarns Adel, der die Fülle seines privilegierten Lebens auskostet, doch im Lichte einer neuen Zeit politisch versagt. Bánffys Trilogie war bei ihrer Entstehung vor allem Urteilsspruch und Mahnung davor, dass die Katastrophe sich fortsetzen könnte. Aus heutiger Sicht aber erscheint ihr Menetekel relativiert; ist ihr Protagonist doch ein Mann, der seine Privilegien auch als Verpflichtung verstand. So ist die Siebenbürger Geschichte dann auch ein großer Abschied, ein Abgesang, eine Verklärung jener Welt von Gestern, der Grandezza und Leichtigkeit ihres Seins, deren so opulente wie subtile Schönheit dem allgemeinen Grauen noch immer widersteht.

© SZ vom 12.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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