Umzug der New York Times:Ein Remake ohne die Siebziger-Jahre-Haarschnitte

Die "New York Times" residiert in einem neuen Gebäude von Renzo Piano - hier verschmelzen Zeitungs- und Onlineredaktion.

Jörg Häntzschel

Die New York Times stolperte in den letzten Jahren durch eine ganze Serie von Skandalen. Sie verliert seit Jahren an Auflage. Sie hat ihr Format verkleinert, um Kosten zu sparen. Und kürzlich eröffnete sie ihr neues Gebäude. Es hat mehr als 600 Millionen Dollar gekostet, es ist mit mehr als 300 Metern das dritthöchste Gebäude in New York, und es steht nicht etwa am Stadtrand, wo alles billig ist, sondern knapp drei Blöcke vom alten Sitz entfernt, mitten in Manhattan. Ein Fall von Größenwahn? Angsttrieb? Nein, die Times weiß, was sie tut, und das nicht nur beim Bauen.

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Der neue Turm, entworfen von Renzo Piano, dem leisesten unter den großen Architekten, dominiert weite Teile der Stadt, aber Aufregung hat er bisher nicht ausgelöst. Ein markantes bauliches Statement hätte wohl nicht der Natur dieser Zeitung entsprochen. Man äußert sich schriftlich, man kultiviert eine Verschwiegenheit wie im Vatikan. Man ist die Presse, man will keine Presse - und lässt sich, wie ein guter Zauberer, ungern in die Karten schauen. Das neue Gebäude ist Ausdruck dieser Haltung. Es sollte transparent wirken, das ist zu erkennen, doch mit seinem Flugzeugträgergrau und der schroffen Silhouette wirkt der Turm fast wie eine Militäreinrichtung. Das Gitter aus parallelen Keramikrohren, das einen Großteil der Fassade bedeckt, soll wie eine Jalousie das Sonnenlicht filtern und den Energieverbrauch im Inneren senken. Doch es erinnert an einen erhobenen Schild und lässt neugierige Blicke nach innen nicht durch.

80 Jahre lang wurde die Zeitung in dem alten, viktorianisch anmutenden Gebäude an der 43. Straße gemacht. Das Chaos und die Enge dort gehören mittlerweile zum Mythos von New York. Viele Abteilungen waren aus Platzmangel auf andere Gebäude verteilt, auch die Online-Redaktion, ursprünglich ein eigenes Unternehmen. Doch schon um die Jahrtausendwende zeichnete sich ab, dass Charakter und Produktionsprozesse im Journalismus sich für immer verändern würden. Die gedruckte Zeitung würde bleiben, aber um ihre Relevanz kämpfen müssen. Wachstum und Innovation würden auf der Website stattfinden. Die Times überdachte ihr Geschäftsmodell und kam zu einem naheliegenden, aber radikalen Schluss: Die Online-Ausgabe sollte nicht länger als Satellit der Printausgabe agieren, sondern als gleichberechtigte Alternative. In diesem Moment war klar: "Es war völlig unsinnig, hier 1200 Journalisten für die Print-Ausgabe und dort 50 Journalisten für die Online-Ausgabe arbeiten zu lassen", so Vivian Schiller, Geschäftsführerin von nytimes.com. Die Integration der beiden Sphären wurde zu einer der wichtigsten Aufgaben des neuen Gebäudes.

Die Offenheit, die dem Times-Tower nach außen fehlt, besitzt er innen reichlich. Schon die Lobby gibt einen Eindruck von dieser lichten Klarheit, die sich, so hoffte man wohl, auch auf die Gehirne seiner Benutzer übertragen würde. Ein kleiner Birkenhain bildet den Mittelpunkt eines riesigen Atriums, das sich links zu den Liften, rechts zum Times Center öffnet, einem luxuriös ausgestatteten Auditorium für öffentliche Veranstaltungen.

Im konventionellen Hochhaus führt der Weg von einer Etage zur anderen unweigerlich durch das Nadelöhr des Fahrstuhls. Die ganze Organisation wird in Scheiben geschnitten. Piano hat sich hingegen bemüht, das Gebäude mit internen Treppen an die tatsächlichen Arbeitsabläufe anzupassen. Die Chefs sitzen nicht in den traditionellen Eck-Büros, sondern in der Mitte der Etagen, wo sie am besten erreichbar sind. Selbst das Arbeiten im Großraum, das die Kommunikation per Zuruf erlaubt, hat seinen Schrecken verloren. Pianos Fine-Tuning, von schallschluckenden Materialien bis hin zu individuell steuerbaren Mini-Klimazonen erzeugt eine entspannte und dabei fast unwirklich konzentrierte Atmosphäre. Ed Wood, einer der Innenarchitekten, liegt nicht falsch, wenn er die Räume mit einem Schweizer Uhrwerk vergleicht. Chaotisch ist höchstens das Manhattaner Panorama jenseits der Fenster.

Das Rad hat Piano hier nicht neu erfunden. Selbst der eigene Architekturkritiker, Nicolai Ouroussoff, zeigte sich in seiner Rezension des Gebäudes enttäuscht über den Hauch von Melancholie, der durch den neuen Bau wehe. Einerseits prunke er mit seiner "grünen" Architektur und seinen technologischen Innovationen, andererseits erscheine er wie eine Reminiszenz an die Nachkriegsmoderne, als die Zeiten für den Journalismus wie für die Architektur einfacher waren. Der Newsroom wirke wie ein "Filmset für ein Remake von Die Unbestechlichen ohne die Siebziger-Jahre-Haarschnitte", schrieb er bissig. Und er hat recht damit. Nach einer Vision für den Journalismus der Zukunft sucht man vergebens. Was das Gebäude ausdrückt, ist Seriosität, Kultiviertheit und ein unerschütterliches Vertrauen in die eigene Bedeutung. Am deutlichsten wird das in der Cafeteria, die wie ein Showroom für Möbelklassiker wirkt. Wer hier isst, wird kaum versucht sein, die strengen journalistischen Richtlinien der Times zu verletzen.

Viel radikaler als alles in dem Neubau sind jedoch die Veränderungen im Selbstverständnis der Times, die sich, so Schiller, von einer Zeitung zu einem "Veröffentlicher von Nachrichten" gewandelt habe. Das Medium ist zweitrangig. Von Anfang an war nytimes.com freigebiger als die meisten Zeitungen. Seit einigen Monaten ist auch das kostenpflichtige Abonnement Times-Select eingestellt worden. Alles, was je in der Times veröffentlicht wurde, ist frei verfügbar; denn Anzeigen spielen mehr Geld ein als Gebühren weniger zahlungswilliger Leser. Mehr Internet-User denn je bewegen sich via Google durchs Netz -·und stoßen ständig auf Times-Artikel.

Fürchtet die Times nicht auch, ihre Online-Präsenz könnte die Auflage und Reichweite ihrer Print-Ausgabe kannibalisieren? Times-Sprecherin Diane McNulty winkt ab. "Wir haben nichts dergleichen festgestellt." Und Schiller ergänzt: "Es ist völlig verkehrt, wenn ein Printmedium Content zurückhält aus Angst, die Leute würden die gedruckte Version nicht mehr kaufen. Wer so denkt, versteht nicht, wie Medien heute konsumiert werden."

Man muss es nur richtig machen: Anders als die meisten Zeitungen verzichtet die Online-Times auf die Boulevard-Elemente, die jeden Webauftritt zu einer sofortigen Geldkuh machen. Sie benützt die Website auch nicht dazu, Nicht-Leser mit Schwellenängsten an die Marke zu gewöhnen in der Hoffnung, eines Tages würden sie die Zeitung kaufen. "Klar hätten wir sofort mehr Clicks, wenn wir den Leuten Zeug zu Britney Spears füttern würden wie unsere Konkurrenz", meint Schiller. "Aber bei uns geht es um Qualität, um intelligente, gebildete Leser. Das wissen unsere Print- wie unsere Online-Anzeigenkunden. Langfristig zahlt sich das aus."

Doch die wichtigste Entscheidung bestand darin, die Online- und Printabteilungen zu verschmelzen. Es gibt nur ein Politik-, ein Wirtschaftsressort. Und die 50 Web-Producer und 80 Programmierer, die den Webauftritt mit immer neuen Tools anreichern, arbeiten Hand in Hand mit den Redakteuren. Die Veränderungen, die für die Autoren und Redakteure damit einhergehen, sind erheblich. Viele schreiben am Nachmittag eine schnelle Fassung ihres Artikels für das Netz, die sie später für die Print-Ausgabe erweitern, ganz zu schweigen von den Blogs, Video-Clips, Slide-Shows und den interaktiven Graphiken, die viele Autoren nebenbei produzieren.

Was sagen sie zu dieser Mehrarbeit? "Well, zum Bloggen wird niemand gezwungen. Im Übrigen sind die Leute hier eben klug genug, um selbst zu sehen, wohin sich der Journalismus entwickelt", meint Schiller. Zum Lohn gehört auch der angenehme neue Arbeitsplatz und das Bewusstsein, für ein Medium zu schreiben, das Intelligenz und Kreativität honoriert wie kein anderes. Dem Rest der Welt ist das nicht entgangen. 23 Prozent der Besucher auf nytimes.com sitzen im Ausland.

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