Umberto Eco:Was vom Tage bleibt

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"Nicht die Nachrichten machen die Zeitung, sondern die Zeitung macht die Nachrichten", sagt ein Journalist im Roman "Nullnummer": Eco im September 2015.

(Foto: imago/Leemage)

Im September 2015 veröffentlichte Umberto Eco sein letztes Buch "Nullnummer", mit dem er auf die Zeitungskrise reagierte. Aus Anlass seines Todes lesen Sie hier das Interview, das SZ-Feuilleton-Redakteur Lothar Müller mit Eco im vergangenen Sommer dazu führte.

Interview von Lothar Müller

Umberto Eco, 1932 in Alessandria im Piemont geboren, hat als Professor für Semiotik viele gelehrte Bücher geschrieben, seit seinem Welterfolg "Der Name der Rose" (1980) ist er auch Romancier. Und mit der Kolumne "La Bustina di Minerva", die im Magazin L' Espresso erschien, wurde er zudem zum Autor der italienischen Presse. In seinem neuen Roman "Nullnummer" wird die Gründung der neuen Tageszeitung Domani zum gefährlichen Abenteuer - der Journalistenroman ist zugleich ein Krimi. In seinem Landhaus in den Bergen der Region Marken hat er mit der SZ über sein neues Buch und sein Interesse am Journalismus gesprochen.

SZ: Im Mittelpunkt Ihres Romans steht eine Zeitung. Warum?

Umberto Eco: Es geht mir um die Krise der Zeitung. Sie begann schon in den frühen Fünfzigerjahren, mit der Ankunft des Fernsehens. Bis dahin erzählte die Zeitung am Morgen, was bis zum Abend des Vortages geschehen war. Danach erzählte sie, was die Leute bereits seit dem Vorabend wussten. Das musste zu einer Krise des Mediums Tageszeitung führen, das ja die Tageszeiten im Titel führte: Corriere della Sera, Evening Star. Hinzu kam die Veränderung des ökonomischen Fundaments, der Werbeeinnahmen etwa. Diese Krise ist bis heute aktuell, da die Mehrheit der jungen Leute keine Zeitungen mehr lesen.

Der Roman spielt aber vor gut zwanzig Jahren, 1992.

Der erste Grund ist: Das ist eine Zeit noch vor dem Internet, das alles geändert hat auf dem Feld der Information und der Medien. Damals waren die Handys noch Zukunft. Der zweite Grund: Es war in Italien ein Schlüsseljahr, ein Jahr des Übergangs, der Aufstieg Berlusconis stand erst bevor. Das politische Machtgefüge begann sich zu verändern. Die Democrazia Cristiana stürzte in sich zusammen, es entstand ein Loch, ein Vakuum im Machtsystem, damals begann die Auflösung der Parteien, auch der Kommunisten, der Sozialisten. Das politische Genie Berlusconis bestand darin zu erkennen, wie dieses Loch gefüllt werden könnte. Es war ein langsamer Prozess, in dem sich Identifikationen mit den Parteien auflösten und allenfalls die katholische Kirche noch ein Identifikationszentrum blieb. Vielleicht ist der Triumph des Selfie dafür eine Metapher: Das einzige verbliebene Identifikationsobjekt ist das Selbst, nicht diese oder jene Ideologie. Berlusconi war einer der Protagonisten dieses Auflösungsprozesses. Er war nicht die Ursache, er hat nur instinktiv begriffen, in welche Richtung sich die Dinge entwickelten, also hat er den Leuten gesagt, es ist in Ordnung, wenn Ihr keine Steuern zahlt. Er appellierte an die schlechtesten Seiten der Italiener.

Welche Rolle spielt die Presse in Italien?

In Italien galt für die Presse über einen langen Zeitraum: sie war schwierig, ja nahezu unverständlich. Sie wandte sich nicht direkt an den Leser, sie war über seinen Kopf hinweg an die Welt der Politik adressiert. Die Zeitung war ein offener Brief, den eine Gruppe der Macht an die andere schickte. Das galt bis ins zwanzigste Jahrhundert. Inzwischen hat sich das komplett geändert. Aber in das Projekt Domani, die Zeitung in meinem Roman, deren Nullnummern produziert werden, die aber nie erscheinen soll, geht die Erinnerung an die Zeitung ein, von der es gleichgültig ist, ob sie den Leser erreicht. Ich habe mich durch ein faktisches Geschehen in den Siebzigerjahren inspirieren lassen; da gab es einen investigativen Journalisten namens Pecorelli, der eine Nachrichtenagentur betrieb und jeden Tag Bulletins verfasste, die nicht in die Kioske kamen und nicht beim Publikum landeten, sondern ausschließlich auf den Schreibtischen der Politiker. Diese Bulletins transportierten die Botschaft: Ich könnte noch mehr sagen, gewisse Dinge. Sie dienten der Erpressung. Zu der Geschichte gehört, dass Pecorelli ermordet wurde. Von wem, kam nie heraus. Der Fall zeigt, wie gefährlich es ist, wenn man, wie in meinem Roman, das Instrument der Zeitung mit dem Ziel handhabt, damit vor allem Erpressung zu betreiben.

Schriftsteller Umberto Eco liest bei der Münchner Bücherschau, 2004

Schriftsteller Umberto Eco liest bei der Münchner Bücherschau, 2004 Prof.Umberto Eco bei der Münchner Bücherschau

(Foto: CATH)

Der Schauplatz Ihres Romans ist Mailand, die Stadt gehört zu den Protagonisten. Es ist die Stadt, in der Sie wohnen.

Mailand ist für mich eine späte Liebe. Ich bin 1954 zum ersten Mal in die Stadt gekommen, vor mehr als sechzig Jahren. Ich kam aus Turin, wo ich studiert hatte. Später habe ich in Florenz unterrichtet, dann in Bologna, war aus allen möglichen Gründen immer wieder in Rom, aber seltsamerweise ist es mir nie gelungen, Mailand als "meine Stadt" zu empfinden. Erst in den letzten zwanzig Jahren habe ich mich immer mehr mit Mailand versöhnt, habe es zu Fuß durchwandert, und mit diesem Buch habe ich eine Art affektive Schuld beglichen, die ich Mailand gegenüber empfinde. Ich habe mich mit dem "heimlichen" Mailand befasst, mit dem verschwundenen Mailand, mit dem Mailand der Katakomben, mit den Kirchen, die bizarre Knochendekorationen beherbergen.

Wie haben Sie die Namen für Ihre Journalisten gefunden? Bei Colonna, der Hauptfigur, könnte man an Francesco Colonna denken, dessen Roman "Hypnerotomachia Poliphili" von 1499 in Ihren Büchern oft vorkommt.

Nein. Es war ganz anders. Ich habe mir im Textverarbeitungsprogramm "Word" die Liste der Schriftarten angesehen. Da finden Sie Colonna, aber auch alle anderen Figuren, Palatino, Costanza, Romana, Fresia, sogar den zwielichtigen Braggadocio. Die Schrift gab es bis vor einigen Jahren in meinem Word-Programm.

Wann hat Ihre Beziehung zu den Zeitungen begonnen, in Ihrem Leben als Leser?

Sehr früh. In meiner Familie wurde die Gazetta del Popolo gekauft, die eine sehr schöne Wochenbeilage für Kinder hatte. Mein Vater sagte damals ständig, ich war so zehn, elf Jahre alt: Lies die "Terza Pagina", die dritte Seite, die war etwas Ähnliches wie das deutsche Feuilleton, mit Artikeln über Kultur und Literatur, aber auch mit Berichten der Auslandskorrespondenten, da gab es viele Leute, die sehr gut schrieben. Also sagte mein Vater, das musst du lesen, dadurch lernst du, wie man gute Geschichten schreibt.

Wenn man Ihre Bücher liest, stößt man rasch auf Ihr Interesse an der populären Kultur, an Comics, Genrefilmen, Krimis. Woher kommt das?

Es liegt daran, dass ich ein ehrlicher Mensch bin. Alle großen Schriftsteller, Philosophen, Dichter lesen in der Nacht Krimis und dergleichen, aber sie schämen sich dafür und sprechen nicht darüber. Bei mir ist das nicht so, ich studiere diese Dinge. Ich bin davon überzeugt, dass die populäre Kultur eine fundamentale Bedeutung hatte, denken Sie nur an das neunzehnte Jahrhundert, wie viel davon eingeflossen ist bei Balzac, Maupassant, Dumas. Meine Generation hat die Ideen von Freiheit und Rebellion gegen die Diktatur erstmals durch die Lektüre von Comics gewonnen, auch durch Mickey Mouse.

Umberto Eco: Umberto Eco: Nullnummer. Roman. Übersetzt von Burkhart Kroeber. Hanser Verlag, München 2015. 240 Seiten, 21,90 Euro. E-Book: 16,99 Euro.

Umberto Eco: Nullnummer. Roman. Übersetzt von Burkhart Kroeber. Hanser Verlag, München 2015. 240 Seiten, 21,90 Euro. E-Book: 16,99 Euro.

Mussolini ist nach dem Krieg nicht verschwunden. In Ihrem Roman spielt er eine auffällig große Rolle. Seine letzten Tage, die Umstände, unter denen er zu Tode kam, werden aufwendig recherchiert.

Das ist die einzige Erfindung in meinem Roman. Vieles andere beruht auf Tatsachen. Es hat mir Spaß gemacht, aus dem Stoff der letzten Tage Mussolinis ein Komplott zu konstruieren. Aber natürlich ist mein Mussolini, der irgendwo in Argentinien noch lebt, eine allegorische Figur. Die Staatsstreichpläne, die im Italien der Nachkriegsära in seinem Namen entworfen wurden worden, wurden ja im Ernst entworfen. Es ging um das Fortleben des Faschismus ohne Mussolini.

"Ich kann nicht desinteressiert sein am Problem der Wahrheit."

Der Körper Mussolinis geistert durch Ihren Roman, auch sein Leichnam. Das Buch "Il Corpo del Duce" des Historikers Sergio Luzzato entfaltet die These, dass im faschistischen Staat der Körper des Duce eine Schlüsselrolle spielte.

Ich kenne das Buch von Luzzato, und einer meiner Schüler, Marco Belpoliti, hat ein Buch über den Körper von Berlusconi geschrieben, "Il corpo del Capo". Der Körper der Duce war in der Tat ein zentrales Element im italienischen Faschismus, der Duce als schöner, starker Mann mit nacktem Oberkörper, der in neoklassizistischen Statuen gefeiert wurde. Das war etwas, das es so bei Hitler nicht gab, es gab die Propaganda für den Führer, aber ich denke, es gab von ihm keine Vision als Modell des Menschen, im physischen Sinn. Bei Mussolini ging das über seinen Tod hinaus. Was ich in meinem Roman erzähle, dass sein Leichnam 1946 auf dem Mailänder Friedhof von faschistischen Aktivisten ausgegraben und in Kirchen versteckt wurde, das hat es wirklich gegeben. Der Mythos des Körpers des Duce hat in der Nachkriegszeit weitergelebt. Die physische Gestalt des Königs war wichtig für die Herrschaft im Mittelalter. Das hat Ernst Kantorowicz in seinem Buch über die zwei Körper des Königs gezeigt. Und mein Freund Jacques LeGoff hat ein Buch über Saint Louis, den heiligen König, geschrieben. Das Kochen des Körpers, um die Knochen zu bewahren, der Reliquienkult, all das gehörte dazu. Diese Kulte um den Körper des Herrschers oder des Heiligen reichen tief in die Geschichte, sie sind so etwas wie eine Elementarform des Aberglaubens. Wir Menschen haben nun mal einen Körper und haben das mit den Tieren gemein, aber wir besitzen Spiegel, die Katzen und Hunde nicht. Der französische Psychoanalytiker Lacan sagt, dass die Identifikation mit sich selbst im "Spiegelstadium" beginnt. Dass wir einen Körper haben, definiert uns, wir tun immer so, als legten wir ungeheuren Wert auf die Seele, aber von der heutigen Gesellschaft könnte man sagen, dass sie ganz auf dem Körperkult beruht.

Ihre fiktive Zeitung "Domani" ist selber eine Art Komplott, eine Machtintrige. Warum spielen Verschwörungstheorien bei Ihnen eine so große Rolle?

Es stimmt, "Das Foucaultsche Pendel", "Der Friedhof von Prag" sind Bücher über Verschwörungen und Verschwörungstheorien. Die Idee des Komplotts hat mich schon immer angezogen, der wichtigste Grund dafür ist mein Interesse an Philosophie. Ich kann nicht desinteressiert sein am Problem der Wahrheit. Der beste Weg aber, um das Problem der Wahrheit zu verstehen, ist, sich ihm durch die Untersuchung des Falschen und der Fälschungen zu nähern: Wie werden sie konstruiert? Jeder hat seine Passion, manche wollen den Montblanc erklimmen, ich will das Geheimnis des Komplotts ergründen, auch als Instrument der Macht und der Politik.

"Domani" ist ein Instrument der Täuschung. Die eigentliche Aufgabe der Zeitung ist aber nicht die Täuschung.

Leseprobe

Einen Auszug des Romans stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Es sollte nicht ihre Aufgabe sein. Aber es gibt das, und es kann durchaus erfolgreich sein auch im Verkauf. Sie kann eine Dreckschleuder sein und dazu dienen, den politischen Gegner durch Ausforschung seiner Privatsphäre zu Fall zu bringen, wie beim "Fall Boffo", bei dem ein Journalist, nachdem er gegen Berlusconi geschrieben hatte, von einer Zeitung mit Geschichten über seine Homosexualität traktiert wurde. Aber natürlich gibt es Zeitungen mit hohem journalistischen Anspruch und hohem ethischen Standard. Es ist wie bei den Dichtern, es gibt gute und schlechte.

Die Sphäre der klassischen Zeitung, die Öffentlichkeit, wird gerade durch die aktuelle Medienentwicklung transformiert. Was ist ihre Zukunft?

Ich könnte Ihnen da eine pessimistische Antwort geben. Die heutigen Generationen werden sehr viel mehr vom Internet beeinflusst als von den Zeitungen. Die wichtigen Zeitungen haben aber nach wie vor einen starken Einfluss auf die Politik. Und ich würde die Funktion der Zeitung für die moderne Öffentlichkeit gern verteidigen. Bei der Zeitung weiß ich, wer zu mir spricht. Ich weiß, wie ich zu interpretieren habe, was die Süddeutsche Zeitung mir sagt, was die Bild-Zeitung mir sagt. Im Internet weiß ich nie ganz genau, wer zu mir spricht. Und es fehlt im Internet die Funktion der Zeitung als Filter und Auswahl; es übt seinen großen Einfluss auf die öffentliche Meinung regellos und oft anonym aus, ohne Ordnung, unkontrollierbar. Bei Zeitungen ist das anders, sie haben eine feste Adresse.

Ist es nicht denkbar, dass im Netz mehr und mehr Filter entstehen, nach dem Modell der klassischen Medien?

Nein, da bin ich sehr skeptisch.

In Ihrem Roman vertritt jemand die These, die Tageszeitung müsse sich in Richtung Wochenzeitung bewegen.

Das ist eine Konsequenz der Krise der Tageszeitung, die mit dem Aufstieg des Fernsehens begonnen hat und sich im Zeitalter des Internet fortsetzt. Die Tageszeitungen, der Corriere oder die Repubblica, haben heute viele Seiten, die wie die einer Wochenzeitung aussehen. Und zugleich verlieren die Wochenmagazine wie Panorama oder Espresso an Auflage, L'Europeo und Epoca sind schon in den Neunzigern verschwunden. Was die klassische Tageszeitung angeht, da habe ich es immer mit Hegel gehalten, der gesagt hat: Sie ist der Morgensegen des modernen Menschen. Und ich hoffe, dass, wenn auch vielleicht nicht im klassischen Format der Tageszeitung, das gedruckte Papier überlebt. Aber es ist so: Wenn ich morgens in die Bar gehe und die beiden Tageszeitungen lese, die da ausliegen, dann bin ich in fünf Minuten durch. Ich kenne die meisten Nachrichten schon aus dem Fernsehen. Das sehe ich, wenn ich die Titel überfliege. Ich stoppe das Überfliegen nur, wenn ich auf eine Vertiefung stoße, einen interessanten Kommentar oder eine interessante Nachricht, die andere Medien nicht hatten.

Und die elektronischen Ausgaben?

Ich selbst ziehe gedruckte Tageszeitungen vor, aus Gewohnheit. Aber wenn die Tageszeitungen auf Papier verschwinden, ihre elektronischen Ausgaben aber genau das machen, was die Zeitungen früher auf Papier gemacht haben, dann hat sich an der Kommunikationsform nichts Substanzielles geändert. Es kann sein, dass sich die Aufmerksamkeitsspanne ändert, das Blickfeld auf den Text. Aber wenn der Text identisch ist, bleibt der Kern gleich. Das gilt auch für E-Books. "Krieg und Frieden" auf Papier oder als E-Book bleibt derselbe Roman.

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