Ukrainische Literatur:Die Verstrickten

Der Schriftsteller Serhij Zhadan hat einen Roman über den Krieg im Donbass geschrieben: "Internat" verbindet auf brillante Weise Kriegsreportage und politische Essayistik.

Von Felix Stephan

Wenn Kriege in Sinnkrisen geraten könnten, sähe das wahrscheinlich ungefähr so aus wie in Serhij Zhadans neuem Roman "Internat": Männer mit automatischen Gewehren, die selbst nicht wissen, ob sie Soldaten oder Milizionäre sind, kontrollieren unmotiviert Ausweise, hauen Zivilisten um Zigaretten an und rufen gelegentlich, wie zur Probe, Anweisungen in die Nacht, ohne dass irgendjemand wüsste, wohin der ganze Aufwand letztlich führen und welche Hoffnung sich am Ende eigentlich genau erfüllen soll.

Dieses Beckett'sche Bedeutungsvakuum ist für Zhadans Texte nicht untypisch. Die zehn Romane, Erzähl- und Gedichtbände, die der Autor mittlerweile veröffentlicht hat, spielen allesamt in der Ukraine und in den allermeisten sterben die Figuren, wie sie leben: für nichts. Sie stürzen Treppen runter, rollen über Tische, beerdigen schon wieder einen Schulfreund und murmeln unterdessen unheilvoll vor sich hin, oft zusammenhangslos, aber immer "mit Tränen in der Seele", wie Dostojewski das einmal genannt hat. Der Krieg verschärft diese Zhadan'sche Daseinsweise nur graduell. Der Dreck, die Tränen und die Hoffnungslosigkeit waren auch vorher schon da. Die neuen Fragen, die der Krieg nun aufwirft, sind meist praktischer Natur: Wie zum Beispiel entfernt man eigentlich gefrorenes Blut von seinen Stiefeln?

Illustrationen zur Literaturbeilage 13.3.2018

Auf Buchmessen wird mit LESESTOFF gehandelt, der gesündesten und anregendsten Droge der Welt. Die schwarzen Buchstaben auf weißem Grund wirken direkt auf Gehirn und Herz.

(Foto: Job Wouters)

Der Roman erzählt von dem Sprachlehrer Pascha, der in einem namenlosen Dorf am Rande der Zivilisation lebt, und dort vor allem um Unauffälligkeit bemüht ist. Eines Morgens wird allerdings der Linienbus, mit dem er jeden Morgen zur Schule fährt, an einem Checkpoint angehalten, bewaffnete Soldaten wollen Paschas Ausweis sehen, und von diesem Zeitpunkt an befindet sich Pascha mitten in einem Krieg, von dem er gehofft hatte, er könne ihm entgehen, indem er einfach den Fernseher nicht einschaltet.

In der Nähe gibt es ein Internat, in dem, das fällt Pascha jetzt ein, noch immer sein Neffe untergebracht ist, und er entschließt sich, den Jungen nach Hause zu holen. Von dieser Reise, die der erste Akt von Selbstüberwindung im Leben des Protagonisten ist, erzählt der Roman. Weil die Straßen gesperrt und die Soldaten unberechenbar sind, schlägt Pascha sich nachts durchs Unterholz, watet durch halb gefrorenen Schlamm, übernachtet in einer Bahnhofshalle, in der sich die Einwohner der Stadt zusammengefunden haben, die es nicht rechtzeitig rausgeschafft haben. Es sind, so hält man das hier offenbar, vor allem Frauen und Kinder.

Der Künstler

Die Illustrationen dieser Literaturbeilage zur Leipziger Buchmesse stammen vom niederländischen Grafiker und Typografen Job Wouters, der unter dem Pseudonym Letman arbeitet. Wouters nennt sich selbst einen "Buchstabenentwerfer" und "Praktiker der verlorenen Kunst der psychedelischen Handschriftenkunst". Jeder seiner Buchstaben ist handgemalt. Für uns hat er Begriffe illustriert, die zur Leipziger Buchmesse gehören.

Als aus einer Ecke der Halle plötzlich Geschrei dringt, klingt das in dem atemlosen Lebensgefahr-Stakkato des Romans so: "Die Frau hört nicht auf zu kreischen, man kann jetzt sogar einzelne Wörter und Intonationen heraushören, und Pascha versteht, aber nicht mit dem Kopf - mit den Lungen: Hier geht es um ein Kind, also stürzt er sich in die Menge, versucht sich durchzudrängen und spürt den Frauengeruch, der ihn umgibt, den Atem, den Geruch von Hunderten Frauen, den Geruch von verlassenem Heim und eilig zusammengepacktem Zeug, den Geruch von Hysterie und Klagen, die nicht vorgebracht werden können." An den Straßenrändern liegen die toten Körper junger Männer in verschiedenen Verwesungsstadien und immer, wenn wieder irgendwo ein Stiefel im Morast liegt, spürt Pascha den Impuls nachzusehen, ob der dazugehörige Fuß noch drinsteckt.

Wie in Cormac McCarthys Roman "Die Straße" ziehen Pascha und, nachdem er ihn gefunden hat, sein 13-jähriger Neffe durch eine Welt nach der Zivilisation, frierend und ruhelos zwischen Rauchsäulen und Körperteilen. Aber anders als der Vater in "Die Straße" versucht Pascha nicht, auch in dieser Welt noch so etwas wie eine Moral zu verteidigen, sondern genau andersherum: Der im zivilen Leben innerlich erschlaffte Pascha entwickelt seinen moralischen Apparat, seine innere Haltung erst im Krieg. Er tröstet verzweifelte Frauen, verteidigt gepeinigte Zivilisten vor sadistischen Soldaten und könnte von sich selbst überraschter kaum sein.

Serhij Zhadan Internat Literatur

Serhij Zhadan: Internat. Roman. Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr. Suhrkamp, Berlin 2018. 301 Seiten, 22 Euro. E-Book 18,99 Euro

Deshalb ist es natürlich verlockend, das Buch als Beitrag zum ukrainischen nation building zu verstehen, als Durchhalteliteratur für den ukrainischen Patrioten. Für die Lesart, dass erst der Krieg im Donbass aus den mutlosen Ukrainern ein selbstbewusstes Volk gemacht habe, fänden sich ausreichend Anhaltspunkte. Krieg als Charakterschule, aus der Nacht durch das Blut ins Licht. Andererseits bedürfen die Ukrainer, um diesen Krieg zu führen, keiner Motivation, schließlich ist es nicht so, als hätten sie eine Wahl. Die Möglichkeit der Enthaltung gibt es hier nicht, auch wenn Pascha noch sehr lange darauf besteht, einfach nur ein Lehrer zu sein, der niemandem etwas zuleide tue und folglich auch kein Leid zu erwarten habe. Der Krieg ist in diesem Roman keine Charakterschule, sondern eine Charakterprüfung, der sich, ob sie wollen oder nicht, sämtliche Beteiligte zu unterziehen haben.

In der Ukraine ist Serhij Zhadan ein Superstar, in Westeuropa dienen seine Texte als eine Art sinnliche Rahmenhandlung für die Nachrichtenbilder, die abends über die Bildschirme laufen. Die kurz geschorenen Soldaten, die zerknitterten Kopftuchfrauen, die müden Säufer, die in der "Tagesschau" immer kurz am Bildrand zu sehen sind, während der Korrespondent eifrig durch die Konfliktzonen reportert, solche Leute sind Zhadans Personal. Dass Zhadan in dieser Bildproduktion schon eine Art Verstrickung sieht, zeigt sich nun an der Figur des überheblichen Kriegsreporters Peter, des einzigen Westlers, der im Roman auftaucht. Am Anfang sitzt Peter in einem Café, raucht Zigaretten, flirtet ukrainische Frauen an und erzählt Pascha, dass er an dessen Land vor allem die Liebe zur Geschichte möge: "Ich würde Ihnen raten, vorsichtig mit der Geschichte umzugehen, Geschichte ist etwas, das Ihnen niemand nehmen kann." Als Soldaten in dem Café auftauchen, zieht Peter allerdings routiniert seinen Presseausweis hervor, macht sich gelassen davon und überlässt Pascha seinem Schicksal. Stundenlang verharrt dieser daraufhin allein in einem ungeheizten Zimmer und wartet auf sein Verhör.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Roman "Internat" stellt der Verlag auf seiner Homepage zur Verfügung.

Erst auf den letzten Seiten hat Peter einen zweiten Auftritt, 250 Seiten Todesangst, Gewehrfeuer, Explosionen später. Fast wirkt er überrascht, dass Pascha noch lebt, schuldbewusst rettet er sich in ein persönliches Gespräch: ",Du denkst, ich bin ein Arschloch', sagt er, ,Tu das nicht. Du weißt doch überhaupt nichts über mich. Okay?'" Das ist der Westen, wie er dem Ukrainer Pascha in diesem Roman gegenübertritt: Weil er sich wegen seines Verhaltens schuldig fühlt, hofft er, dass ihn die Leute wegen seiner inneren Werte trotzdem mögen. Und das ist kurz zusammengefasst das Bild, das Europa in den meisten Konfliktzonen dieser Welt abgibt.

In der Disziplin der rhythmischen Kriegsbetrachtung befindet sich Serhij Zhadan jedenfalls eher in der Linie von Heiner Müller als in der von Carl Schmitt. Am Krieg fasziniert ihn eher die Entmenschlichung, die Kreatürlichkeit, das sinnlose Verrecken als das identitätsstiftende Moment und die schöpferische Ordnung. Der Krieg ist hier in keiner Sekunde produktiv. Es handelt sich lediglich um einen lebensgefährlichen Irrsinn, den einige besser bewältigen, viele schlechter, und von dem sich die meisten nie erholen werden.

An einer Stelle wird ein Bus voller geschundener Zivilisten an einem Checkpoint angehalten. Milchgesichtige Soldaten haben Lust auf Ärger, verlangen Ausweise, wollen ihren Blutdurst stillen. Einen der Soldaten kennt Pascha von irgendwoher. Sie nicken einander zu, der Soldat hält seine Kameraden zurück, winkt den Bus durch. Später fällt Pascha ein, dass der Soldat ein ehemaliger Schüler gewesen ist, der jetzt auf der anderen Seite kämpft. Und das bringt Pascha dann doch ins Grübeln, dass seine eigenen Schüler jetzt Maschinengewehre auf ihn richten. In einer ganz ähnlichen Lage befindet sich Serhij Zhadan selbst. Auch er lebt im Donbass und schreibt auf Ukrainisch, obwohl in der Region überwiegend Russisch gesprochen und gelesen wird. Und weil der Krieg im Donbass das Russische und das Ukrainische zu Gegnern erklärt hat, gibt man im Grunde schon ein Bekenntnis ab, sobald man nur den Mund aufmacht. Eine Passivität gibt es in diesem Krieg nicht, es gibt lediglich bequemere und unbequemere Varianten, daran teilzunehmen. Und wenn Pascha die Wahl hätte, wäre ihm die westeuropäische Variante lieber. In der letzten Szene erblickt er das Haus der Familie, wie es friedlich daliegt, die Fenster sanft erleuchtet von "einem gleichmäßigen Fernsehlicht".

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