Ukrainische Literatur:Das Püppchen, das vom Westen träumt

In "Kukolka" erzählt Lana Lux von einer Kindheit in der Ukraine und Deutschland als Sehnsuchtsland.

Von Christoph Schröder

Gemeinsam mit dem blinden Ilja sitzt die kleine Samira an einem Brunnen in der Innenstadt von Dnjepropetrowsk. Ilja spielt Akkordeon, Samira singt dazu. Ihr Lieblingslied ist das von einem kleinen Land hinter den Bergen, in dem die Menschen voller Freude und Liebe zusammenleben und ein schöner Junge auf einem goldenen Pferd wartet. In dieses Land, ihr Sehnsuchtsziel, träumt Samira sich hinein, Tag für Tag. Das Land heißt Deutschland.

Die postsowjetischen, wilden Neunzigerjahre in der Ukraine haben Schriftsteller wie Serhij Zhadan oder Juri Andruchowytsch in Essays und Romanen beschrieben, sie haben das Stimmungsbild eines anarchischen Zwischenzustands eingefangen, in dem auf den Zerfall der kommunistischen Strukturen noch nichts Neues gefolgt war. Ein Nebeneinander von vulgären kapitalistischen Auswüchsen, moralischer Desorientierung und dem Reiz des Neuen, Aufregenden, Offenen. In diese Atmosphäre hinein hat Lana Lux, 1986 in Dnjepropetrowsk geboren und 1996 als Kontingentflüchtling nach Deutschland gekommen, ihr Romanpersonal platziert. Und sie hat sich für das Erzählen aus der Kinderperspektive entschieden. Ein riskantes Unternehmen auf dem schmalen Grat von aus Naivität gespeistem Erkenntnisgewinn und nachgetragenem Autorinnenwissen.

Kukolka ist das ukrainische Wort für Püppchen. Gemünzt ist es auf Samira, die Ich-Erzählerin. Sie wächst in einem Kinderheim auf. Die Zeit davor ist ein schwarzes Loch. Als einmal jemand sagt, jeder müsse eine Mutter haben, bestreitet sie das. Immer dann, wenn Lana Lux Abhängigkeitsverhältnisse als nicht hinterfragbare Selbstverständlichkeiten beschreibt, gelingen ihr schauderhaft beklemmende Szenen.

Die Macht, die von selbst ernannten, durch nichts als Gewalt legitimierten Autoritäten ausgeht, ist ein Zentralmotiv des Romans. Das beginnt im Kinderheim. Samira ist auch innerhalb des Außenseitermilieus stets wiederum eine Außenseiterin, die entweder stigmatisiert oder exotisiert wird: "Zigeunerin" wird sie gerufen, nur ihrer langen schwarzen Haare wegen. Zum Gegenbild wird ihre Freundin Marina, die von Adoptiveltern nach Deutschland geholt wird. Von diesem Zeitpunkt an ist Deutschland Samiras Trostfantasie.

Ukrainische Literatur: Lana Lux: Kukolka. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2017. 376 Seiten, 22 Euro. E-Book 16,99 Euro

Lana Lux: Kukolka. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2017. 376 Seiten, 22 Euro. E-Book 16,99 Euro

Aus dem Heim haut sie ab, nur um in die nächste Abhängigkeit zu schlittern, als sie am Bahnhof von Rocky aufgelesen wird. Er fährt einen Alfa Romeo, nimmt Straßenkinder in seinem Haus auf, bildet sie zum Stehlen oder Betteln aus, kassiert das Geld ein und verspricht allen eine bessere Zukunft. Die Älteren wissen, dass er ein Lügner ist, aber ihnen fehlt die Alternative. Rocky ist, wie auch die Insassen der unfreiwilligen Wohngemeinschaft, eine gekonnt ambivalent gezeichnete Figur, Despot und Jammerlappen zugleich. Lydia, die zu Samiras schwesterlicher Freundin wird, ist Rocky in einer Art Stockholm-Syndrom verbunden, nach einem Muster, das sich später bei Samira wiederholen wird.

"Kukolka" ist kein sonderlich komplexes, dafür aber über weite Strecken ein spannendes Buch. Wie in einem Stationendrama führt Lana Lux ihre kindliche Heldin Schritt für Schritt in einen Extremzustand, in dem ihr kindliches Bewusstsein in hartem Widerspruch zu Samiras körperlicher Entwicklung steht. Dass Samira in aller Naivität einem sich charmant gebenden Zuhälter in die Hände fällt, der das niedliche Püppchen in eine käufliche Lolita ummodelt, ist keine große Überraschung. Das Problem allerdings ist, dass der im ersten Teil intensive Roman mit dem Älterwerden seiner Protagonistin verflacht und anfällig für Klischees wird.

Leseprobe

Die handwerklichen Ungereimtheiten gefährden am Ende die Architektur des Romans. Zu Beginn fällt nur die etwas irritierende Inkonsistenz der Perspektive auf. Mal ist Samira entsetzt über das deftige Vokabular, mit dem etwa Genitalien bedacht werden, dann wieder benutzt sie es selbst. Und als Rocky sie zum Einkleiden in einen Second-Hand-Laden bringt, der von einer dünnen, papierenen Frau betrieben wird, heißt es: "Ich hatte Angst, sie würde zu Staub verfallen, sobald sie in die Glut der Sonne tritt." So denkt keine Neun- und auch keine Vierzehnjährige, so denkt eine Schriftstellerin.

Zunehmend verfällt das Buch, dessen unabweisbare Stärke in seiner unschuldigen Brutalität liegt, in einen reportagehaft-moralisierenden Tonfall: "Macht. Gewalt. Erniedrigung. Sie bezahlten nicht für den Sex, sondern für das Recht, alles mit mir machen zu dürfen, was durch ihren abartigen Kopf ging." Oder: "Nur ein starker Schmerz konnte mich zurückholen. Mich wieder in das Gefängnis meines Körpers einsperren." Das sind, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, Sätze, die der Situation angemessen sein mögen. Im sprachlichen Kosmos des Romans allerdings bedeuten sie einen Bruch. Sehr spät erst klärt sich die Situation auf, aus der heraus all das überhaupt erzählt wird: Nachdem Samira als Fünfzehnjährige, den Kopf voll mit Träumen, in Deutschland zur Prostitution gezwungen wurde (Stereotyp: Die ukrainischen Männer sind schon schlimme Tiere, aber die deutschen erst!), berichtet sie einer Ärztin von ihrer Leidenszeit.

Samiras Erzählung in Berlin beginnt mit eben den Sätzen, mit denen der Roman begonnen hat. Sie braucht die ganze Nacht dafür. Ein Ringschluss also. Danach dürfte es, logisch betrachtet, gar nicht mehr weitergehen. Doch Lana Lux muss, und das ist begreiflich, noch Samiras Deutschlandknoten lösen. Das wiederum geschieht in einem frappierend gut geschriebenen Anti-Showdown. Er versöhnt mit diesem nicht immer gelungenen, aber streckenweise kalkuliert verstörenden Debüt.

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