Ukraine:Das Odessa-Experiment

Shipping Operations At Ukraine's Odessa Commercial Sea Port GP

Touristen in der Fußgängerzone Odessas.

(Foto: Bloomberg)

Sie ist eine Enklave des Eigensinns: Nun soll Odessa die ganze Ukraine retten, angeführt von einem Georgier, einer Russin und einem Ex-Münchner.

Von Sonja Zekri, Odessa

Anatomisch gesehen ist Lächeln nichts anderes als Zähnefletschen. Odessa lächelt oft, aus Weisheit oder Vorsicht, aus Heiterkeit selten. Die bunteste, wildeste Stadt am Schwarzen Meer war Odessa mal, ironisch, kosmopolitisch, manchmal mit 14 Sprachen in zwei Wohnblöcken, Russen, Ukrainer, Juden, Griechen, Amerikaner, Türken. Dann brach das 20. Jahrhundert an, brachte Pogrome, Revolutionen, Kriege. Odessa ist keine glückliche Stadt. Aber ein Vorort heißt immer noch Arkadien.

Viele in der Ukraine führen heute ihre Ukrainischkenntnisse vor - Odessa spricht Russisch. Teile der russischsprachigen Ukraine werfen sich Moskau an den Hals - Odessa hält treu zu Kiew. Es gab auch hier Bombenanschläge, aber die Zahl der Extremisten ist niedriger als anderswo. Im Osten des Landes bewegt sich der Krieg mit etwas Glück auf einen kalten Frieden zu. In Odessa hat man davon ohnehin wenig mitbekommen. Einige Aufmärsche, ein paar patriotisch-ukrainische Plakate, mehr nicht. Odessa ist ein Vorbild für die Gemäßigten, für alle, die sich mit so verflixten Fragen wie Identität und Toleranz herumschlagen. Und nie mehr als in diesen Tagen, denn gerade läuft: das Odessa-Experiment.

Der Versuchshintergrund. Im jüngsten Video der fabelhaft erfolgreichen österreichischen Band Wanda steht ein Kinderwagen auf einer Riesentreppe, ein Herzschlag, dann rollt er, stürzt, fliegt durch die Luft. Dazu singt Wanda "Bussi Baby". Es ist das gefühlt viertausendste Zitat von Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin", und in Odessa kennt Wanda niemand. Dafür ist die Treppe zum Hafen, diese grandiose, schier endlose Vertikale bis heute die Achse, um die sich alles dreht: die Stadt, ihr Wohlstand (der Hafen!) und die Legende.

Geboren aus dem Pragmatismus der Getreidehändler, bewahrt durch die Zähigkeit der Kleinbürger, berühmt durch seine Verbrecher und Künstler - das ist Odessa. Seit Puschkin hier ein paar Kapitel seines "Eugen Onegin" schrieb, sind sich alle einig, dass dies eine Enklave des Eigensinns ist in leider meist repressiver Umgebung.

Ein Georgier, eine Russin und ein Ex-Münchner treten an, die Stadt zu reformieren

Die Versuchsanordnung. Ein sonniger Herbsttag auf einem Spielplatz, drei Politiker werben um Stimmen. Einer davon ist Michail Saakaschwili, Ex-Präsident Georgiens, Erzfeind Moskaus und von Kiew ernannter Gouverneur von Odessa. Mit seinen Pausbacken und dem engen Sakko hat er trotz seiner Größe etwas Meerschweinchenhaftes, tritt insgesamt aber kein bisschen so auf, als habe er 2008 sein Land in einen Krieg mit Russland gestürzt und würde heute zu Hause mit Haftbefehl gesucht, sondern als sei er noch immer, was er einmal war - Hoffnungsträger des Westens.

Keine andere Stadt habe das Potenzial Odessas, ruft er der überschaubaren Menge zu. Trotzdem sei nirgends die Wasserqualität so schlecht, der Zustand von Schulen und Straßen so erbärmlich. Und warum? "Weil das Geld gestohlen wird." Oligarchen, Beamte, der Bürgermeister - alle korrupt. Neben ihm steht die russische Oppositionelle Mascha Gaidar, Tochter des Reformers Jegor Gaidar, Erzfeindin Putins. Und dann, kleine Kinder sanft zum Foto arrangierend, ist da noch Alexander Borowik. Er ist im ukrainischen Lwow geboren, studierte Jura in Harvard, gründete ein Start-up im Silicon Valley, lebte in Prag, Barcelona und München. Sehr kurz beriet er mal die Jazenjuk-Regierung in Kiew. Nun soll er am 25. Oktober für Saakaschwili die Bürgermeisterwahl gewinnen.

Dies nämlich ist das Experiment: Die völlige Ausrottung des weder durch Umstürze noch Regierungswechsel angekratzten Odessaer Klüngels mithilfe dreier Zugereister. Die Reformer haben Polizisten entlassen, sich mit dem Zoll angelegt und eine reibungslose Verwaltung versprochen. "Wir machen das nicht für Odessa, sondern für das ganze Land", hat Borowik gesagt. Odessa als Modell für die Ukraine - das können sich viele am Schwarzen Meer vorstellen.

Ein Exil-Trio will Odessa retten

Die drei umgeben sich gern mit Kulturschaffenden. Unlängst besuchte Borowik das Internationale Literaturfestival in Odessa, das die Menschen in vollen Sälen als wichtige Infusion auswärtiger Kultur feierten. Er wurde freundlich aufgenommen. Wenige Intellektuelle können sich dem Zauber des Anfangs entziehen.

Die Großraumbüros von Yandex Odessa sind garniert mit Billards und Sitzsäcken. Yandex ist das russische Google, aber die meisten Ukrainer glauben, der Suchmaschinengigant sei eine heimische Firma, und Kiew hängt es nicht an die große Glocke, weil es die Steuereinnahmen braucht. Taissia Naidenko, Content Managerin, Pfeifenraucherin, atemberaubendes Achmatowa-Profil, arbeitet seit fünf Jahren hier, davor in einem Leichenschauhaus. Außerdem schreibt sie Gedichte. Nach Lesungen kommen Zuhörer und sagen, dass sie keine Lyrik mögen, aber ihre Gedichte lieben. Das entschädigt sie dafür, dass sie ihre Bücher selbst drucken, abholen und in den Buchläden verteilen muss, denn Odessa behandelt seine lebenden Dichter miserabel. Aber zum Experiment.

"Alle, die uns regiert haben, kamen von außen"

Ein Georgier, eine Russin, ein Ex-Münchner wollen Odessa retten - und dann das ganze Land. Kann das klappen? Unbedingt, sagt Taissia: "Alle, die uns regiert haben und auf die wir stolz waren, kamen von außen." Die berühmtesten Stadtoberhäupter trugen fremde Namen, de Ribas, Richelieu, Langeron, dazu der anglophile Russe Woronzow: "Ausländer haben viel Gutes getan." Ob Odessa Russland gehöre, haben ihre Kinder gefragt. Nein, hat sie geantwortet. Der Ukraine? Auch nicht. Wem dann? "Odessa gehört allen." Darauf haben ihre Kinder ein unübersetzbares russisches Wort erfunden, "wsechnyj", was so viel bedeutet wie "von allen".

Natürlich, der Schmelztiegel Odessa ist Vergangenheit. Die Stadt ist russifiziert, seit dem Ende der Sowjetunion sind viele Juden ausgereist. Zudem war das Leben davor auch kein Volksfest. "Die vielen Religionen, Feiertage, Sprachen, Sitten, das war nie leicht", sagt Taissia. Dazu die Ideologien! Sozialismus, Kommunismus, Zionismus - einer der schönsten Odessa-Romane ist "Die Fünf" des späteren Irgun-Terroristen Wladimir Jabotinski. Gerade diese irren Gegensätze sind der Ursprung des Odessaer Witzes, sagt Taissia. Man kann den anderen umbringen oder über ihn lachen. Meist lachte Odessa.

Die Stadt hat heute etwas von Sankt Petersburg in den Neunzigern: Fantastische Fassaden mit Meerjungfrauen und spitzbrüstigen Karyatiden; Restaurants mit Kunstrasen und Tigerplüsch. Die Jungs tragen Hipsterbart und Zopf, die Mädchen so wenig wie möglich. Und die ewigen Fragen sind wieder aktuell. Was genau soll das sein - Odessaer Kultur?

Alexander Roitburd, Künstler und Schriftsteller, sitzt im lauschigsten Café des Stadtparks, begrüßt jeden dritten, der vorbeigeht, und gibt darauf eine drastische Antwort. Dass er nicht mehr in Moskau ausstellt - begreiflich. Aber dass er, ein "Mensch der russischen Kultur" (Roitburd), verkündet: "Ich hasse die russische Kultur" - da schluckt man. Lermontow, Puschkin, die Götter von früher sind für ihn heute Repräsentanten des großrussischen Expansionismus. Russlands literarische Giganten und der Okkupant Putin gehören für ihn in eine ideologische Liga: "Dostojewski hat auf den Donbass geschossen", den umkämpften Osten der Ukraine.

Zu gestrig sei Odessa, klagen manche, zu provinziell und selbstverliebt

Überhaupt, die Kultur. Für Dichter seien es harte Zeiten, klagt er, zu gestrig sei Odessa, zu provinziell, verliebt in Stereotype von sich selbst. Der Fetisch vergangener Größen - Ilja Ilf und Jewgeni Petrow mit ihrer Gaunerkomödie "Die Stühle", Konstantin Paustowski mit "Zeit großer Erwartungen" und Isaak Babel, vor allem Babel -, das sei doch Gift für die moderne literarische Entwicklung.

Nur die Sowjetmacht war stärker

Der Innenhof in der Bogdan-Chmelnizkij-Straße 23, früher Gospitalnaja, sieht aus wie Hunderte anderer Innenhöfe in der Moldawanka, dem einstigen und heutigen Arbeiter- und Verbrecherviertel: Autos, Balkone, ein bisschen Grün. Aber vor einer der Wohnungen hängt ein weißes Tuch wie der Schleier einer Braut. Es markiert für Babel-Pilger - und jeder Odessa-Reisende sollte ein Babel-Pilger sein -, einen äußerst bemerkenswerten Ort. In diesem Hof nämlich feierte der Verbrecherkönig Benja Krik, Babels Held in den "Geschichten aus Odessa", vor hundert Jahren die Hochzeit seiner glupschäugigen Schwester. Sämtliche "Aristokraten der Moldawanka" waren eingeladen, sie kamen in himbeerroten Westen und azurblauen Stiefeln und zerschlugen Wodka-Flaschen auf den Köpfen ihrer Liebsten. Als Benja Krik erfuhr, dass der Polizeichef an diesem Abend eine Razzia plant, ließ er das Polizeirevier anzünden. Dann feierte er weiter.

Anna Misjuk hat mit einem ehemaligen KGB-Offizier Odessas wunderbares Literaturmuseum aufgebaut, in den Siebzigerjahren, als viele der heutigen Klassiker noch verboten waren. Sie kennt jeden Stein und jedes Blatt des literarischen Odessa und führt von einem Babel-Ort zum anderen, seiner Oberschule, seinem Wohnhaus, dem einstigen Gebäude der sowjetischen Geheimpolizei Tscheka in einem gelben Bürgerhaus. Dort wird in einer Erzählung Froim Gratsch erschossen, das "wahre Oberhaupt der vierzigtausend Odessaer Diebe", einäugig, nicht zu fassen, ohne Skrupel.

Isaak Babels Figuren waren ungeheuerlich in ihrem Stolz und ihrem Hunger nach Leben

Babels Figuren waren keine vergrübelten Schtetl-Träumer, sondern jüdische Supermenschen, knallbunte, lärmende Mafia-Größen, die einer ganzen Stadt ihren Willen aufzwangen. Ungeheuer waren die Männer wie die Frauen in ihrem Hunger nach Leben, ihrem Stolz, ihrer Lust. Es war die schrillste, großartigste Antwort auf Jahrhunderte der Unterdrückung, die man sich vorstellen kann.

Nur die Sowjetmacht war stärker als diese Adler. Und natürlich war sie auch stärker als Babel, dieser besessene Forscher nach dem inneren Motor des Lebens, der mit Texten über Prostitution begann, mit seinem Bürgerkriegs-Werk "Reiterarmee" auffiel und auf dem Höhepunkt des roten Terrors ein Buch über den Geheimdienst plante, das er nicht überlebte. Er wurde verhaftet, gefoltert, erschossen.

Der Westen kennt Babels Namen, aber wenige haben ihn gelesen, auch in Odessa meidet ihn die Jugend. Dabei sollte ihm dringend eine ganze Buchmesse gewidmet werden, denn niemand hat so wie er die Dynamik der Ausgrenzung und die soziale Mechanik der Gewalt beschrieben - als Instrument der Zugehörigkeit, als Statusgewinn, als Gewohnheit. "Er betrachtete die Massen ohne Mitgefühl, ohne Psychologie, sozusagen auf Augenhöhe", sagt Anna Misjuk: "Er beschrieb die Krüppel auf der Friedhofsmauer, die Bettler, die Schmuggler, manche bis zu den Ellbogen in Blut." Jüngst habe sie Interviews mit Freiwilligen aus dem Donbass gesehen: Wie sie über ihre Gefühle beim Töten sprachen, "es war wie eine Passage aus der ,Reiterarmee'".

Leidet Odessas Kultur unter einem Retro-Koller? Romantisiert die Stadt ihre Verbrecher? Anna Misjuk schnaubt. "Wer so redet, ist entweder verrückt oder neidisch."

Odessa habe immer eine distanzierte Haltung zum Staat und zum Gesetz gehabt, sagt sie: "Vielleicht denken manche, dass man das in Zeiten des Krieges nicht mehr darf, dass man nun loyal zur Regierung halten muss." Aber Odessa ironiefrei und gesetzestreu - das wäre ja mal ein Witz.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: