Übersetzerin :Hat der gerade Scheißkerl gesagt?

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Annette Stachowski dolmetscht seit mehr als dreißig Jahren für die Europäische Union. Ein Werkstattgespräch über die Sprache der Diplomatie, Pizzaboten nachts um zwei und die Probleme der Japaner mit Trump.

Interview von Pia Ratzesberger

Im Europäischen Parlament richten sich alle Kameras auf die Politiker. Doch am Rand, in den verdunkelten Kabinen, sitzen diejenigen, die europäische Politik erst möglich machen: die Dolmetscher. Annette Stachowski, 61, dolmetscht seit mehr als dreißig Jahren für Europa, erst in der Kommission, dann im Parlament. Sie muss deshalb nicht nur wissen, dass sie "he's hit for six" für die Deutschen mit "alle Neune" übersetzen muss. Sondern auch, was zu tun, ist, wenn ein Politiker einen anderen als "Scheißkerl" bezeichnet.

SZ: Frau Stachowski, Sie übersetzen seit Ende der Achtzigerjahre für die Europäische Union. Nicht immer einfach, oder?

Annette Stachowski: Nein. Einmal musste ich einen Kollegen bei einer Sitzung der Papierindustrie vertreten. Ein Amargeddon! Da ging es um Walzanzugsrollen.

Was ist eine Walzanzugsrolle?

Keine Ahnung. Aber ich muss sie auf Französisch und in allen anderen Sprachen erkennen können.

Sie übersetzen vom Englischen, Französischen, Niederländischen und Portugiesischen ins Deutsche?

Wir übersetzen nicht, wir dolmetschen. Übersetzen ist das Schriftliche und Dolmetschen ist die Wiedergabe dessen, was gesagt wird. So akkurat wie möglich: Jemand sagt etwas, wir verdolmetschen das - aber wir legen den größten Wert auf den Sinn.

Was hat sich im Parlament verändert in all den Jahren?

Als ich dort ankam, 1994, ging es vor allem um politische Fragen: Sind wir bei einem Thema dafür oder dagegen? Was sagen die einen, was die anderen? Jetzt bestimmt das Parlament die Gesetze mit und muss sich mit Dingen wie dem Emissionshandel beschäftigen, also mit vielen technischen Details. Das ist sehr anspruchsvoll. Ich bin immer wieder voller Bewunderung, wie viel Sachkenntnis die Politiker haben.

Es ist wahrscheinlich schwer, jede Nuance wiederzugeben. Denkt man manchmal "Hm, das hat der eigentlich schärfer formuliert"?

Sicher, man möchte auf keinen Fall Öl ins Feuer gießen. Aber wenn Worte wie "scheiße" fallen, muss man die wiedergeben, auch wenn es einem schwerfällt. 2003 beleidigte der frühere italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi im Plenum Martin Schulz, damals Vorsitzender der Sozialisten. Berlusconi sagte, in Italien werde gerade ein Film über Konzentrationslager gedreht und er schlug Schulz für die Rolle eines Aufsehers vor. Der Dolmetscher hat nicht die Aufgabe zu zensieren, sondern alles wiederzugeben, was im Saal gesagt wird. Die Dolmetscherin hat damals einen kühlen Kopf bewahrt und es genauso verdolmetscht, wie Berlusconi es gesagt hat.

Haben Sie Ähnliches erlebt?

Bei der Kommission, in einem Fischereirat, wurde mal ein Land sehr laut. Es ging gegen Deutschland und da fiel das Wort "Scheißkerl". In solche Situationen komme ich nicht gerne, weil man nur denkt: "Oh Gott, jetzt bloß nichts Falsches sagen." Der deutsche Minister kam zu uns in die Kabine und fragte: "Hat der das wirklich gesagt?" Wir haben genickt, er ging wieder raus und sagte galant zu seinem Kollegen: "Übrigens, ich verbitte mir diesen Ton."

Werden Abgeordnete oft ausfallend?

Es wird oft hitzig diskutiert, aber selten gepöbelt. Es gibt kulturelle Unterschiede innerhalb des Parlaments, aber dennoch merkt man, dass wir ein Kulturkreis sind. Das macht das Dolmetschen einfacher: Man hat ein gemeinsames Verständnis davon, was daneben ist. Da haben es Dolmetscher in anderen Kulturen schwerer.

Wo denn zum Beispiel?

In Japan. Es ist für die japanischen Kollegen schwer, so drastisch zu dolmetschen, wie US-Präsident Donald Trump spricht. Denn ihre Kultur ist darauf ausgerichtet, immer die größte Ehrerbietung vor Respektspersonen zu bezeugen.

Wie retten Sie sich, wenn Sie einen Begriff nicht kennen?

Man kann sich nicht retten. Im besten Fall merken die Kollegen das, recherchieren den Begriff auf dem Tablet und schieben einem einen Zettel hin.

Und als Sie noch keine Tablets in der Kabine hatten?

Da kam ich zum Teil mit telefonbuchartigen Vokabellisten, die ich mir selbst zusammengestellt hatte. Fisch ist ein tolles Beispiel: Die Namen von all diesen Fischen kann man nicht im Kopf behalten. Also muss man sich immer wieder auf die Fische vorbereiten. Und wenn dann irgendein Dorsch genannt wird, reicht ein flehender Blick in Richtung Kollegen und der Fisch wird recherchiert.

Ist es denn möglich, den Sinn zu 100 Prozent zu übertragen?

Wenn jemand seine Sprache sehr gut kann und der Kontext nicht zu technisch ist, kann man hundert Prozent des Sinnes rüberbringen. Aber oft geht es zu schnell, denn das Tempo wird immer schneller.

Weshalb?

Weil immer mehr verlesen wird. Vorbereitete Statements werden in einem Affenzahn vorgetragen. Tschechen und Polen etwa reden in einer Geschwindigkeit, gerade wenn sie ablesen, die atemberaubend ist. Die Verdolmetschung wird ab 120 Worten in der Minute schwierig. Ausschmückungen in einer Rede muss ich dann weglassen, weil man das so schön auf die Schnelle nicht hinbekommen kann.

Ausschmückungen sind wahrscheinlich ohnehin schwierig zu dolmetschen?

Die Engländer verwenden gerne Zitate aus der Bibel und von Shakespeare. Und Cricket. Dann sagt einer: "He's hit for six." Den hat er für sechs gehauen. Das sagt einem Deutschen überhaupt nichts.

Und dann?

Ich habe das übersetzt mit "Alle Neune". Kegeln kennt in Deutschland jeder. Das ist das Schwierige am Dolmetschen und das Schöne.

Müssen sie manchmal ganze Nächte dolmetschen, wenn sich die Politiker nicht einig werden?

Nicht mehr so wie früher. Da kam man morgens um zehn rein und am nächsten Tag um zehn wieder raus. Bei der Kommission waren wir Ende der Achtzigerjahre mal in einer endlos langen Sitzung. Es war so nachts um zwei, eine Sitzungspause. Wir, die drei deutschen Dolmetscher, fingen also an, Skat zu spielen. Wir mussten ja wach bleiben. Wir hatten Pizza kommen lassen, das war damals noch ohne Weiteres möglich. Der Pizzabote kam einfach ins Haus.

Und dann?

Der Ratspräsident versuchte die Stimmung aufzulockern und sagte: "Ich hätte einen Witz für die Kollegen." Alle Beteiligten waren etwas gelangweilt, weil er den Witz wohl schon oft erzählt hatte. Mein Kollege sagte einfach statt zu dolmetschen: "Ah, jetzt kommt wieder der Witz, den kennen Sie ja schon, aber Sie haben Glück, ich kennen einen besseren." Und er erzählte seinen unanständigen Witz, der ein Lacherfolg war. Die Deutschen waren begeistert und der Ratspräsident war happy, dass die Deutschen seinen Witz so lustig finden.

© SZ vom 04.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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