Überlegungen zum Gemeinwohl:Schafft die Parteien ab!

Simone Weil forderte die Abschaffung der Parteien, weil sie nur zur Lüge taugten: "Vertraute man die Organisation des öffentlichen Lebens dem Teufel an, er könnte nichts Tückischeres ersinnen."

Jens Bisky

Wer heute sämtliche politischen Parteien abschaffen wollte, würde rasch totalitärer Neigungen verdächtigt werden. Die Existenz mehrerer Parteien und deren geregelter Wettkampf um die Macht gelten inzwischen als wertvoll an sich.

Überlegungen zum Gemeinwohl: Schlafen und lächeln: Der gegenwärtige Wahlkampf zeigt vor allem, wie schwer es fällt, politische Emotionen zu wecken.

Schlafen und lächeln: Der gegenwärtige Wahlkampf zeigt vor allem, wie schwer es fällt, politische Emotionen zu wecken.

(Foto: Foto: ddp)

Simone Weil sah dies anders. "Die Demokratie, die Macht der größeren Zahl sind keine Güter", heißt es in ihrer erstmals 1950, also posthum veröffentlichten "Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Partei", die nun auch auf Deutsch vorliegt. Demokratie und Macht der größeren Zahlen seien lediglich "Mittel zum Guten, die zu Recht oder zu Unrecht für wirksam gehalten werden."

Simone Weil, 1909 in einer liberalen jüdischen Familie in Paris geboren, schrieb die "Anmerkung" im Londoner Exil, während sie über die politische Nachkriegsordnung Frankreichs nachdachte. Im Namen der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls plädierte sie, wenige Monate vor ihrem frühen Tod im August 1943, gegen Parteien überhaupt.

Diese schienen ihr durch drei Merkmale hinreichend charakterisiert: Eine Partei sei erstens "eine Maschine zur Fabrikation kollektiver Leidenschaft", als Organisation übe sie zweitens "kollektiven Druck auf das Denken" ihrer Mitglieder aus; ihr einziger Zweck sei schließlich das eigene, unbegrenzte Wachstum. "Aufgrund dieser drei Merkmale ist jede Partei in Keim und Streben totalitär. Wenn sie es nicht in Wirklichkeit ist, dann nur, weil die anderen Parteien um sie herum es nicht weniger sind als sie."

Die kurze Schrift ist überreich an solchen sehr klaren, sehr strengen Sätzen. Das ist eine Sprache, die zur Meditation einlädt, nicht zum Gespräch. Ein Gutes kann Weil der Existenz der Parteien nicht abgewinnen. Deren Abschaffung sei legitim und wünschenswert und könne nur gute Wirkungen zeitigen. Parteien zwängen dazu, die Öffentlichkeit, sich selbst und die Partei zu belügen. Sie seien also ein Übel: "Vertraute man die Organisation des öffentlichen Lebens dem Teufel an, er könnte nichts Tückischeres ersinnen."

Unverzüglich wird man Weil zustimmen wollen, wenn sie darüber spottet, einer sei aufgefordert, den kommunistischen Standpunkt oder den sozialistischen oder den radikalen darzulegen. Wer auf Wahrheit aus ist, sollte sich nicht darum kümmern, ob dies mit einem bestimmten Standpunkt, einer vorgefassten Meinung konform sei.

Das informative Nachwort von Thomas Macho und Helen Thein skizziert die politischen Erfahrungen Weils. Dazu gehörte der Spanische Bürgerkrieg, in dem sie die Erfordernisse des Krieges über die Ideale triumphieren sah, zu deren Verteidigung er geführt wurde. Vergleichbares, so glaubte sie, habe sich bereits in Lenins Sowjetrussland ereignet. Die Entwicklung des Gaullismus ließ Ähnliches befürchten. Darauf reagiert ihre melancholische Radikalität.

Der heutige Leser sucht unwillkürlich nach einem dritten, einem gangbaren Weg jenseits von unangefochtener Herrschaft der Lüge oder genereller Abschaffung. Ist das politische Leben tatsächlich zur Verlogenheit, zu Gruppenzwang und Hetze verdammt, solange Parteien existieren?

In England scheint es anders auszusehen oder doch wenigstens einmal anders gewesen zu sein. Dort, so Weil, eigne den Parteien ein "Element von Spiel, von Sport" - ein Moment der aristokratischen Tradition und daher nicht übertragbar. Französische Parteien seien dagegen vom Ernst geprägt, wie alle Institutionen mit plebejischer Herkunft.

In Deutschland werden die Parteileidenschaften inzwischen durch programmatische Angleichung gemildert, durch das, was man "Sozialdemokratisierung" nennt. Der gegenwärtige Wahlkampf zeigt vor allem, wie schwer es fällt, politische Emotionen zu wecken, glaubwürdig Propaganda für Parteiinteressen zu betreiben. Zu allgemein ist die Vorliebe für Kompromisse und pragmatische Lösungen geworden, zu häufig scheinen Sachfragen und technokratisches Wissen wichtiger als Doktrin und Standpunkt.

Wenn Simone Weils "Anmerkung" heute dennoch berührt, dann vor allem durch den klaren Duktus, die rousseauistische Leidenschaft fürs Gemeinwohl und den ungeheuren Ernst der Argumentation.

SIMONE WEIL: Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteien. Aus dem Französischen von Esther von der Osten. Diaphanes Verlag, Zürich, Berlin 2009. 60 Seiten, 10 Euro.

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