Überleben durch Talent:Schneewittchens Albtraum

Die Jüdin Dina Babbitt ging als 19-Jährige freiwillig ins KZ. Sie überlebte Auschwitz, weil sie für Josef Mengele Porträts malte. Diese Bilder will die 85-Jährige nun wieder haben.

Rafael Medoff

Im Herbst 1943 kommt eine große Gruppe tschechischer Juden aus dem Lager Theresienstadt im KZ Auschwitz an. Unter den Gefangenen befindet sich auch Dina Gottliebova, eine talentierte 21-jährige Malerin. Sie und ihre Mutter überleben das Todeslager - dank der Bilder, welche die junge Jüdin dort malt. Viele Jahre nach Kriegsende, als sie längst als erfolgreiche Trickfilm-Animatorin in den USA arbeitet, erfährt sie, dass ihre Porträts von KZ-Häftlingen immer noch existieren: Sie befinden sich im Museum von Auschwitz. Dina Babbitt, wie sie nun heißt, reist nach Polen und fordert ihr Werk zurück. Doch das Museum weigert sich. Bis heute.

Überleben durch Talent: Fasziniert von der Animationstechnik: Dina Babbitt vor einem Schneewittchen-Bild.

Fasziniert von der Animationstechnik: Dina Babbitt vor einem Schneewittchen-Bild.

(Foto: Foto: Klüver/SZ)

SZ: Dina Babbitt, als die Nazis Ihre Mutter im Januar 1942 ins Lager nach Theresienstadt schickten, stand Ihr Name nicht auf der Liste. Warum sind Sie trotzdem mitgegangen?

Babbitt: Ich wollte nicht, dass meine Mutter allein ist. Ich hatte Angst, dass sie es ohne mich nicht übersteht. Wir kamen an meinem 19. Geburtstag in Theresienstadt an. Es war ein schrecklicher Ort, aber wir waren zumindest am Leben. Wir wussten nicht, wie viel schlimmer es noch sein konnte, bevor sie uns Herbst 1943 nach Auschwitz brachten.

SZ: Ihre Mutter und Sie wurden in Auschwitz getrennt. Sie selbst landeten in einer Kinderbaracke, wo Sie zufällig einen alten Bekannten trafen.

Babbitt: Ich traf einen jungen Mann, mit dem ich in der Tschechoslowakei befreundet gewesen war. Er hieß Freddy Hirsch und war früher ein zionistischer Jugendführer gewesen. In Auschwitz war er nun der inoffizielle Chef einer der Baracken. Wir Kinder wurden dort gehalten, bis wir an der Reihe waren, vergast zu werden. Als wir uns trafen, wusste Freddy, dass ich Künstlerin war. Er bat mich, etwas an die Wand zu malen, um die Kinder aufzuheitern. Ich weiß bis heute nicht, wie er es geschafft hat, die Farbe zu besorgen. Beim Malen habe ich die ganze Zeit befürchtet, dass ein Aufseher mitkriegen könnte, was ich da tue, und ich dann hingerichtet werde.

SZ: Warum haben Sie Schneewittchen gemalt?

Babbitt: Ich wollte die fröhlichste Szene malen, die ich mir vorstellen konnte. Der Trickfilm "Schneewittchen" war damals in Europa sehr beliebt. Ich hatte ihn mir in Prag sieben Mal hintereinander angeschaut, so fasziniert war ich von der Animationstechnik. Die war sehr ausgefeilt für die damalige Zeit. Während ich Schneewittchen malte, standen die Kinder um mich herum und baten mich, mehr zu malen, die sieben Zwerge und Tiere. Da tat ich auch.

SZ: Es war natürlich unmöglich, so eine Wandzeichnung vor den Nazis zu verstecken. Und es war auch unmöglich, den Namen den Künstlerin geheim zu halten. Was geschah am 22. Februar 1944, als ein Geländewagen vor Ihrer Baracke hielt und sie mitgenommen wurden?

Babbitt: Als ich im Auto saß, war ich sicher, dass sie mich umbringen würden. Der Fahrer sagte kein Wort. Dann hielten sie vor dem Lazarett und brachten mich zu Dr. Mengele. Natürlich hatte ich zu dem Zeitpunkt keine Ahnung, wer er war oder was für Experimente er mit den Gefangenen machte. Ich hatte nur Angst.

SZ: Josef Mengele war einer der berüchtigsten Kriegsverbrecher. Er hat widerliche Versuche an jüdischen Gefangenen und Sinti und Roma durchgeführt, um zu bewiesen, dass sie "Ariern" rassisch unterlegen seien. Weil er glaubte, dass seine Fotos den Hautton der Sinti und Roma nicht gut genug trafen, sollten Sie Porträts von ihnen malen. Wie haben Sie auf diese Forderung reagiert?

Babbitt: Ich sagte zu ihm: Und was ist mit meiner Mutter? Ich hatte gehört, dass sie in einer Gruppe war, die bald vergast werden sollte. Also sagte ich Mengele, dass ich die Porträts nur malen würde, wenn er dafür sorgt, dass meine Mutter verschont wird. Falls nicht, habe ich ihm damit gedroht, mich auf den Elektrozaun zu werfen, der um das Lager herumführte. Ich weiß, es war das, was wir im Jiddischen "Chuzpe" nennen. Damals war noch ein anderer jüdischer Gefangener im Raum, ein Arzt. Als er hörte, was ich da verlangte, sagte er: "Du kannst doch nicht ...", aber Mengele unterbrach ihn und sagte, dass er tun würde, was ich verlangt habe. Kurz darauf brachten sie meine Mutter zu mir.

SZ: Ein paar Wochen später wurden die anderen Frauen aus der Gruppe, in der ihre Mutter gewesen war, vergast.

Babbitt: Ja, und ich dachte immer, dass wir als nächstes dran sein könnten. Also habe ich sehr langsam gemalt. Ich wusste, dass wir so lange leben würden, so lange ich malte: Meine Mutter, die Person, die ich porträtierte, und auch ich. Am nächsten habe ich mich einer Frau gefühlt, die Celine hieß. Ihr Baby war gerade gestorben, verhungert, weil sie keine Milch hatte, um es zu füttern. In den Tagen, in denen ich sie malte, gab ich ihr etwas von meinem Brot, und ich malte so langsam ich konnte. Dabei sah ich ihr in die Augen, und es war, als würde ich in sie hinschauen. Man sieht das in dem Bild.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, mit welchen Argumenten Dina Babbitt die Rückgabe der Bilder verweigert wird.

Schneewittchens Albtraum

In dem Jahr malt Dina Babbitt elf Porträts von gefangenen Sinti und Roma. Manchmal bringen ihr SS-Offiziere auch Fotos von ihren Familien und befehlen ihr, diese ebenfalls zu malen. Sie muss auch ein Bild von Mengele selbst anfertigen, eine Kohlezeichnung. Später, nach ihrer Befreiung durch die Alliierten trifft Gottliebova den amerikanischen Trickfilmzeichner Arthur Babbitt und heiratet ihn. Er ist ironischerweise einer der Künstler, die an dem berühmten Schneewittchen-Film mitgearbeitet haben, den sie später aus ihrer Erinnerung an die Wand der Kinderbaracke in Auschwitz malte. Das Paar zieht nach Südkalifornien, wo sie für berühmte Cartoon-Studios wie die Jay Ward Productions, die Warner Brothers und MGM arbeitet. Zu Babbitts Figuren zählen Berühmtheiten wie Daffy Duck, Wile E. Coyote, Speedy Gonzales und Tweety.

Babbitt: 1973 nahmen Mitarbeiter des staatlichen Museums von Auschwitz in Polen Kontakt zu mir auf. Sie sagten, sie hätten sechs Gefangenen-Porträts gefunden, unterzeichnet mit "Dina 1944"; später fanden sie noch ein siebtes. Sie haben mir nie genau erklärt, von wem sie die Bilder gekauft haben. Ich sollte zu ihnen kommen und bescheinigen, dass ich die Porträts gemalt habe. Dass es die Bilder noch gab, war für mich damals unglaublich. Sie wieder in den Händen zu halten - wie ein Wunder. Sie waren ein Teil von mir, ein Teil meines Lebens. Sie hatten mir geholfen, zu überleben.

SZ: Haben Sie gedacht, Sie würden die Bilder mit nach Hause nehmen können?

Babbitt: Ja. Ich bin dort mit einer großen Mappe hingereist, um sie zu transportieren. Aber sie weigerten sich, mir die Bilder zu geben. Sie sagten, die wären das Eigentum des Museums. Ich war schockiert und untröstlich. Seit dem Tag habe ich nicht mehr aufgehört, an die Bilder zu denken.

SZ: Könnte das Museum keine Reproduktionen Ihrer Bilder aufhängen?

Babbitt: Es könnte. Es sollte. Heute gibt es Reproduktionen, die so hochwertig sind, dass fast keiner mehr den Unterschied zwischen Original und Kopie erkennt. 1997 bin ich wieder nach Polen gereist, diesmal zusammen mit Katie Couric, der Moderation der "Today Show" von NBC. Die Bilder, die das Museum an diesem Tag ausgestellt hatte, waren Kopien. Ich verstand, dass das aus Sicherheitsgründen so war, die tauschen die Originale und die Kopien ständig aus. Also, warum zeigen sie nicht ständig die Kopien und geben mir meine Bilder zurück?

SZ: Die Vertreter des Museums argumentieren, dass, wenn Sie Ihre Bilder bekommen, andere Überlebende des Holocaust auch Dinge zurückfordern würden.

Babbitt: Ist Ihnen ein anderer Fall bekannt, in dem jemand etwas von sich erkannt und zurückgefordert hätte?

SZ: Nur einer. Der Sohn eines französischen Überlebenden sah einen Koffer mit dem Namensschild seines Vaters daran. Er befand sich in einer Ausstellung im Museum von Auschwitz mit mehreren hundert Koffern deportierter Juden.

Babbit: Wenn sie hunderte von Koffern haben, sollten sie froh sein, dass sie endlich einen Eigentümer gefunden haben. Stellen Sie sich nur vor, wie viel dieses eine Stück der Familie bedeutet.

In den vergangenen Jahren hat Dina Babbitt Unterstützer gefunden. 2001 verabschiedete das Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten eine Resolution, welche ihr "moralisches Recht" anerkennt, "die Kunstwerke, die sie geschaffen hat, zu bekommen". Der Präsident und der Außenminister der USA werden darin aufgefordert, sich "umgehend" für Babbitt einzusetzen. Das Außenministerium hat bislang keinen solchen Schritt unternommen, wohl, um die Beziehungen zu Polen nicht zu beeinträchtigen. Vor zwei Jahren dann unterzeichneten 450 Comicbuch- und Animationskünstler eine Petition, in der das Museum von Auschwitz aufgefordert wird, die Bilder zurückzugeben - bislang ohne Erfolg. Ein Sprecher schrieb Babbitt: "Wenn irgendwer das Recht auf die Bilder hat, wäre es Dr. Mengele, aber ich bezweifle, dass er kommen wird, um sie sich zu holen."

Interview: Rafael Medoff, Direktor des David S. Wyman Institute for Holocaust Studies /Übersetzung: Marc Felix Serrao

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