Über den Zustand der Patchwork-Familien:Liebe statt Ökonomie

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Jede dritte Ehe in Deutschland wird geschieden. Selbst der Bundespräsident zelebriert das "Patchworkglück". Die Autorin Melanie Mühl hält das Idealbild von der bunten Vielfalt in dieses Familienmodells für eine Lüge. Viel zu groß seien die Verletzungen, die Kinder bei Trennungen erleiden. Jedoch kommt in Mühls Argumentation eine entscheidende gesellschaftliche Entwicklung zu kurz.

Johan Schloemann

Eine junge Frau, Mitte dreißig, ist es leid. "Wenn alles ersetzbar ist, ist alles wertlos", sagt sie. Sie erträgt es nicht mehr, dass all die zusammengewürfelten Beziehungen von Erwachsenen und Kindern, die sich nach Trennungen und Scheidungen ergeben haben, mehr und mehr idealisiert werden: Nämlich als eine bunte Multioptionsfamilie, mit fröhlich zwischen Stiefeltern und leiblichen Eltern hin- und herpendelnden Kindern, deren Verletzungen ebenso ausgeblendet werden wie die Verletzungen verlassener Elternteile. Um die Gunst der Kinder zu gewinnen oder zu erhalten, tun die Teilzeiteltern in den wertvollen Stunden des Zusammenseins alles für die Kleinen: "Sie dürfen Eis essen, bis ihnen übel wird." Das Programm der Deutschen Bahn für alleinreisende Kinder heißt "Kids on Tour".

Melanie Mühl sieht die Familie von Bundespräsident Christian Wulff (im Bild) an der Spitze des euphemistischen Verblendungszusammenhangs. Das Foto zeigt ihn mit Ehefrau Bettina auf Walderkundung mit einer Schulklasse. (Foto: dpa)

"Patchwork", Flickwerk, ist seit etwa 1990 das im Deutschen gebräuchliche Wort für diese Verhältnisse. An der Spitze des euphemistischen Verblendungszusammenhangs sieht die junge Frau die neue Familie des Bundespräsidenten Christian Wulff.

Zwei Kinder jeweils aus erster Ehe beziehungsweise Beziehung, dazu ein neuer gemeinsamer Bub. Die Medien besonders des Boulevards sind begeistert: Alle verstehen sich prima; Bettina Wulff ist "Lady Lässig", die ihrem Mann und dem Land eine "Verjüngungskur" verschafft: "Patchworkglück" auf Schloss Bellevue. So sieht es auch in deutschen TV-Filmen und -Serien aus, seit "Ich heirate eine Familie": Die klassische Familie, die zusammenbleibt, ist "im fiktionalen Fernsehen im Grunde ausgestorben", nicht nur aus dramaturgischen Gründen. Klar, da ist ein kleiner Junge auch schon mal ein bisschen traurig im Beziehungskuddelmuddel, aber das ist auch nicht viel dramatischer als ein kleines Missgeschick, ungefähr wie eine Vier in der Mathe-Arbeit.

Jede dritte Ehe in Deutschland wird geschieden. Die Trennungen von Unverheirateten kommen noch hinzu. Scheidung ist heute kein letzter Ausweg, es ist eine Standardlösung für Enttäuschte. Die Darstellung in der Öffentlichkeit, kritisiert die junge Frau, bildet dabei nicht bloß die soziale Praxis ab; sie legitimiert und verstärkt sie durch Beschönigung. Wenn man die bürgerliche Ehe nur "entweder als Gefängnis oder ewigen Honeymoon" wahrnehmen kann - nicht erst seit Wulff und der deutschen Vorabendserie, sondern seit dem Auftritt der romantischen Liebe in der Romanliteratur -, dann beeinflusst das bei zunehmender Scheidungslockerheit auch die Rechtfertigungsstrategien der Getrennten gegenüber sich selbst und den Kindern: "Die Eltern sagen, es werde sich nicht viel ändern. Sie würden jetzt eben die eine Hälfte der Woche bei der Mutter, die andere beim Vater verbringen. Aber die Eltern haben gelogen. Es ändert sich alles."

Die Frau, die sich damit nicht abfinden will, heißt Melanie Mühl, sie arbeitet als Reporterin im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und hat ihre Kritik jetzt in dem Buch "Die Patchwork-Lüge. Eine Streitschrift" gebündelt, das an diesem Freitag erscheint (Hanser Verlag, München, 176 Seiten, 23,90 Euro).

Direkte Ansprache an die Bindungsunfähigen

Was diesem Angriff eine gewisse Kraft verleiht, das ist, dass er sich nicht auf irgendwelche Gegner der Meta-Ebene konzentriert wie etwa "den Feminismus" oder "Achtundsechzig", sondern die Bindungsunfähigen direkt moralisch anspricht: Sie sollten zum Wohle der Kinder einsehen, mahnt Melanie Mühl, dass Erwachsensein Verantwortung und Festlegung bedeute, anstatt "von einer Versuchsanordnung des Glücks zur nächsten" zu eilen, "als unterliege die Biographie einer Dauerevaluierung".

In Charlotte Roches jüngstem Roman "Schoßgebete" sagt die Protagonistin: "Die erste Regel, wenn man ein Kind kriegt, lautet: Bleibt auch gefälligst für immer zusammen. Und gerade ich, als kaputtes Scheidungskind, habe selber gegen diese Regel verstoßen." Die neue Patchworkfamilie lässt sich denn auch bei Charlotte Roche nur durch verkrampftes, therapiegestütztes Gefallenmüssen zusammenhalten.

Da Melanie Mühl bei der Aufdeckung der "Patchwork-Lüge", bei der Kritik unserer leidenskompensierenden "Infrastruktur des guten Gewissens" und bei der Verteidigung eines loyalen familiären Schutzraums ihre persönlichen Lebensumstände nicht zum Thema macht, hat sie es verdient, dass auch die Kritik an ihrer Streitschrift nicht persönlich argumentiert.

Damit, mit der Frage nach der jeweiligen Erfahrung, ist dann aber doch das Problem berührt, das jeder Scheidungskritik innewohnt: Wer sind wir denn, über den Einzelfall zu richten?

Weihnachten in einer Patchwork-Familie: Man kann Trennungen sinnvollerweise nur statistisch oder aus echter Freundschaft hinterfragen; die konkreten Umstände der Zerrüttung sind jeweils privat und verschieden. (Foto: N/A)

Man kann Trennungen sinnvollerweise nur statistisch oder aus echter Freundschaft hinterfragen; die konkreten Umstände der Zerrüttung (so der Begriff des Scheidungsrechts) sind jeweils privat und verschieden, insofern ist die Scheidung eben keine Standardlösung. Natürlich ist es in der Regel nicht gut und nicht richtig, wenn man Kinder zeugt und dann vor dem Partner oder der Partnerin wieder wegläuft.

Egoismus, Verantwortungslosigkeit und Verbiesterung der Eltern sind mitunter schockierend, unten wie oben in der Gesellschaft. Doch was können in einer auch sonst sehr liberalen Gesellschaft allgemeine Appelle von außen bewirken, wenn man noch nicht mal mit dem Nachbarn darüber spricht?

Fragt man aber umgekehrt nicht nach dem Einzelfall, sondern nach der Menge der Trennungen, so braucht es wiederum eingehendere Analysen als die mit gutem Willen zusammengerührte Kulturkritik, die Melanie Mühl in ihrem Buch vorbringt.

Sie benennt einige Gründe: den Jugendwahn, die Atmosphäre der Selbstoptimierung, die konsumartige Wahrnehmung des Partnermarktes, überzogene Erwartungen an die Liebesheirat.

Zusammenbleiben wäre das Beste

Hierzu kann man Genaueres bei der israelischen Soziologin Eva Illouz nachlesen, die in ihrem im Oktober auf Deutsch erscheinenden Buch "Warum Liebe weh tut" die "quasi-ökonomischen Mechanismen" heutiger Liebe beleuchtet und die moderne Partnerwahl folgendermaßen beschreibt: "Sie wird zwischen einer großen Zahl von realen und eingebildeten Optionen getroffen; sie ist das Ergebnis eines Prozesses der introspektiven Selbstprüfung, in dem Bedürfnisse, Gefühle und Lebensstilpräferenzen abgewogen werden; und sie geht aus einem individualisierten Willen und Gefühlsleben hervor, die von dem reinen Willen und Gefühlsleben eines anderen in Anspruch genommen werden und auf sie reagieren - ein Prozess, der im Prinzip auf beiden Seiten einer konstanten Erneuerung bedarf." Solche Ansprüche enden dann nicht selten in der Enttäuschung - zugleich wird die Entscheidung, aus der Enttäuschung zum Bruch zu schreiten, gesellschaftlich immer weniger geächtet.

Man wird Melanie Mühl natürlich beipflichten, dass das Zusammenbleiben nach der ersten hormonellen Begeisterungsphase für die Kinder wie auch fürs Paar meistens das Beste wäre: "Zu viel Prosa, zu wenig Poesie, überall Alltag. Wir fürchten, dies sei der Anfang vom Ende der Liebe, dabei ist es nur das Ende vom Anfang."

Jedem ist dieses Glück, diese Gelassenheit, dieses Vertrauen zu wünschen. Allerdings kommt bei Melanie Mühl zu kurz, dass sich die sozioökonomischen Bedingungen der Ehe verändert haben: Emanzipation und Berufstätigkeit der Frauen, technische Innovation, kulturelle Diversifizierung, Mobilität und Individualisierung, Druck auf das Ein-Ernährer-Modell, all dies will sie ja gar nicht verteufeln, sagt Mühl, die Verteidigerin der Familie - aber dann tut sie als junge Frau mit einem guten Job so, als seien es nur die Exzesse unserer Form von liberalem Kapitalismus, die das Patchwork-Durcheinander befördern, und nicht die fortschreitende Entwicklung dieses Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells mit seiner Angebotsvielfalt insgesamt. Bei bröckelndem Wachstum und härterem Zwang zum Schuldenabbau wird die Bindungsfähigkeit auch kaum zunehmen.

Aber die Ökonomie ist nicht alles, da hat die Patchwork-Kritikerin auch wieder recht: Es geht um Liebe. Ihr Aufruf, die Verluste von Trennungen nicht als bunte Vielfalt schönzureden, bietet jedenfalls Stoff für leidenschaftliche Diskussionen.

© SZ vom 27.8.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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