Udo Jürgens zum 80. Geburtstag:Die Ohrfeige

Udo Jürgens zum 80. Geburtstag

Udo Jürgens ist Österreicher von Geburt und Schweizer aus Neigung. Ein Großer ist er jedoch aus Bestimmung.

(Foto: dpa)

Udo Jürgens ist Botschafter einer Welt zwischen Unterhaltung und Ernsthaftigkeit - einer von uns auch dort, wo wir klein sind. Unser Autor kennt eine Anekdote über den österreichischen Entertainer aus Kindertagen - und sprach ihn nachts an der Bar drauf an. Eine Geschichte zum 80. Geburtstag.

Von Gerhard Matzig

Es war im Sommer und spät. Die Zeit, da die Nacht zum Tag werden will. Im Nachtcafé, das es heute als Ort Münchner Selbstgewissheit nicht mehr gibt, da wirkten die Leute an der Bar, als befänden sie sich nicht am Maximiliansplatz, sondern im Gemälde "Nighthawks".

Edward Hopper hat es 1942 als beunruhigende Hommage an die urbane Tristesse gemalt. Das Bild hängt in Chicago, und wenn Udo Jürgens nun, vor 20 oder 25 Jahren, wie der große Nachtfalke der Musik angefangen hätte zu singen, dass er noch niemals in Chicago gewesen sei (oder auch in New York), man hätte ihm das nicht geglaubt. Aber unbedingt glauben mögen.

Er war damals schon einer, der viel über Malerei und Dichtung wusste und der schon überall in der Welt gewesen war. Udo Jürgens ist einer der weltläufigsten Sänger, Entertainer und Komponisten, die Deutschland hervorgebracht hat. Natürlich auch deshalb, weil Jürgens Österreicher von Geburt und Schweizer aus Neigung ist. Ein Großer ist er jedoch aus Bestimmung - und einer von uns auch dort, wo wir klein sind.

Zu seinem Erfolg wie auch zu seinem Schicksal gehört, dass ihn alle sofort eingemeinden. Einige Hundert Millionen Menschen müssten das bei mittlerweile mehr als 100 Millionen verkauften Tonträgern sein. Warum? Weil man sich in ihm erkennen will. Gerade dann übrigens, wenn er sich nicht zu erkennen gibt.

Die FAZ schrieb mit Blick auf Jürgens einst von einer "überschaubaren Welt der Klischees", und die Stuttgarter Zeitung von "schlagerseliger Naivität". So viel zu den Klischees und von überschaubaren Reflexen, wenn es darum geht, ob es eine Welt zwischen U und E gibt.

Weißer Bademantel trotz Mozarteum

Es gibt sie - und Udo Jürgens ist ihr Botschafter. Er hat für Shirley Bassey komponiert, für Frank Sinatra, für Bing Crosby. Er hat mit den Berliner Philharmonikern gearbeitet und am Mozarteum. Und trotzdem gibt es den weißen Bademantel und den gläsernen Flügel. Eben.

Zurück an die Bar. Das Bild "Nighthawks" entstand drei Jahre bevor Udo Jürgen Bockelmann im großen, parkähnlichen Garten der Bockelmanns auf dem Magdalensberg von Ottmanach, das ist eine Gemeinde bei Klagenfurt in Kärnten, die Ohrfeige erhielt.

Jürgens beobachtet nach Falkenart. Aus der Höhe

Das Haus war mehr Gut als Haus. Udo Jürgens stammt aus großbürgerlichen Verhältnissen. Nur von dort aus konnte er die viel kleineren Wohnzimmer und ihre Musiktruhen so gut verstehen und so intensiv zum Träumen und Weinen und zum Glücklichsein bringen. Bis hin zu den Beinen von Dolores.

Irgendein Klischee vergessen? Hoffentlich nicht. Klischees sind wichtig. Nicht als Teil der kleinen Welt gelang dies Jürgens, der lange auf seinen Ruhm warten und darum kämpfen musste, sondern als Beobachter. Nach Falkenart. Aus der Höhe.

Die Ohrfeige: Nicht die berühmte, offizielle Watschn aus der Hitlerjugend war das (wegen ungenügender leibesertüchtigender Bemühungen), die man aus der Jürgens-Biografie "Der Mann mit dem Fagott" kennt und die dafür sorgte, dass Udo Jürgens auf einem Ohr schlecht hört. Nein, gemeint ist die unbekannte Ohrfeige, eine Privat-Ohrfeige sozusagen, die aber auch mit dem Krieg zu tun hat.

Und jetzt, zu so später Stunde, dass sie schon wieder so früh erscheint in den sehr späten Achtzigerjahren an der Bar im Nachtcafé, wo Udo Jürgens Stammgast war, jetzt würde man sich diese Privat-Ohrfeige einmal zunutze machen.

Udo Jürgens wird 80

Botschafter der Welt zwischen U und E: Udo Jürgens beim Grand Prix d'Eurovision 1966 in Luxemburg.

(Foto: Ducklau/dpa)

Da war die Bar. Da war der Star Jürgens. Herbie Hancock war leider nicht da, George Benson war leider auch nicht da, und Boris Becker war zum Glück ausnahmsweise nicht da. Aber Jürgens war da. Und wenn jetzt jemand sagt: Hancock, Benson, Jürgens - geht's noch? Dann lautet die Antwort: Aber ganz genau.

Im Bannkreis an der Bar

Allein saß er vor seinem Drink. Er trug einen gut geschnittenen Anzug. Und dazu sein Nachtfalkengesicht. In einem Interview erzählte er Giovanni di Lorenzo kürzlich von seiner Schlaflosigkeit, die man manchmal nicht von der Depression unterscheiden konnte. Das Glück, sagt er, ist ohne Traurigkeit nicht zu haben.

Jürgens an der Bar aber, was für ein Glück. Und ganz allein. Und zum Glück ist man jung und kühn. Man betritt also den Bannkreis an der Bar, irgendjemand hält einen auf, weshalb man etwas lauter als nötig sagt: "Ich kenne ihn."

Die Chance für eine gute Geschichte

Udo Jürgens schaut kurz hoch, blickt einem fast ein bisschen traurig in die Augen - und schüttelt den Kopf. Der Barmann sieht es und will einen schon zur Seite schieben, weshalb man schnell ergänzt: "Aus Klagenfurt. Schloss Ottmanach. Die Ohrfeige. Der Krieg ist aus."

Klagenfurt und Ottmanach, der Krieg ist aus: das ist Udo Jürgens' Heimat. Und Heimat ist eine ernste Angelegenheit. So blickt er noch einmal hoch, und man erhält eine Chance. Die Chance für eine gute Geschichte an der Bar. Bars sind nicht die Orte zum Trinken, sondern die Lebensräume der Geschichten. Das haben sie übrigens auch mit den besten Schlagern gemeinsam.

Die Chance also. Schließlich kommt man aus einer Familie, die aus Klagenfurt stammt. Und aus der Familie war jemand im Bockelmann-Garten. In den letzten Kriegstagen. Udo Jürgens war zehn Jahre alt, sein Vater der Bürgermeister der Gemeinde. Weshalb man nun ganz genau weiß, dass dieser Udo, der einmal für die Weltjugend so popprominent wie die Kennedys werden sollte, aus dem Haus gestürmt kam als kleiner Junge und rief: "Der Krieg ist aus. In ein paar Tagen."

Das stimmte, aber für diesen Satz konnte man damals standrechtlich erschossen werden. Zack! Ohrfeige vom Vater.

Udo Jürgens hörte sich an der Bar die Privat-Watschn-Geschichte aus dem Familienfundus des Autors gutmütig bis umnebelt und müde an. Zu dieser Geschichte gehört eine Kindheit und Jugend in der Allgegenwart von Udo-Jürgens-Musik.

Würde man heute mitten in der Nacht geweckt werden mit dem Liedanfang "17 Jahr, blondes Haar", man würde sofort textsicher wie je weitersingen: "Lalala-lala." Es war schlimm, Musik von Udo Jürgens und die eigene Familiengeschichte waren genau das, was zu überwinden war. Notfalls mit Hilfe von Steely Dan.

Seine Lieder sind, wie sie sein müssen

Jürgens drehte sich damals an der Bar um, lächelte und sagte: "Die Ohrfeige, hm, kann sein, kann schon sein." Und einen Drink später, da sagte er etwas, das man bis heute nicht vergessen hat: "Finden Sie nicht auch, dass Geschichten besser sind, wenn sie wahr sein könnten?" - "Besser als was?" - "Besser als Geschichten, die nur wahr sind."

Viel später hat man es verstanden. Und seither liebt man seine Lieder noch immer nicht - aber man verehrt ihre Größe, weil sie sind, wie sie sein müssen. "Das Glück ist ein flüchtiger Vogel", hat Udo Jürgens einmal gesagt. Gut so, aber es sollte ein Nachtfalke sein. An diesem Dienstag wird er 80.

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