TV und Internet:Fernsehen, sei umschlungen!

Für die meisten TV-Sender ist der Ausflug ins Internet ein Kulturschock. Man sieht's. Können oder wollen die das nicht besser? Eine Tour d'Horizon durch das Netz der Möglichkeiten.

Mario Sixtus

Das komische Digitalzeugs, von dem der bärtige Mann am Rednerpult erzählt, interessiert die Anwesenden nicht die Bohne. Einige gähnen, andere unterhalten sich, einer ist sogar eingeschlafen. So beschreibt Tim Renner in seinem Buch "Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!" (Über die Zukunft der Musik- und Medienindustrie. Frankfurt a. M., 2004) ein denkwürdiges Aufeinandertreffen zweier Kulturen: Im Jahre 1994 sprach der Netz-Visionär Nicholas Negroponte vor hochrangigen Managern der Plattenfirma Polygram und prophezeite ihnen nichts Geringeres als das Ende ihres traditionellen Geschäftsmodells. Bereits in zehn Jahren werde jeder zweite Musiktitel aus dem Internet kommen, so Negroponte.

jahrbuch fernsehen

Der Essay, hier die gekürzte Version, erschien Ende Mai im "Jahrbuch Fernsehen 2008". Das seit 16 Jahren bestehende Jahrbuch umfasst neben medienpolitischen Essays und einer kritischen Inventur des Fernsehjahres eine Dokumentation der renommiertesten Fernsehpreise sowie einen Serviceteil mit Adressen, Daten und Fakten zum Medienmarkt. Es wird herausgegeben vom Adolf-Grimme-Institut, der Deutschen Kinemathek, der Fachzeitschrift "Funkkorrespondenz", dem Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik und dem Institut für Medien- und Kommunikationspolitik, das auch für die redaktionelle Leitung verantwortlich zeichnet.

(Foto: Screenshot: www. jahrbuch-fernsehen.de)

Quatsch

Das sei natürlich Quatsch, soll sich der Polygram-Chairman hinterher im Kreise seiner Kollegen entschuldigt haben, schließlich sei jeder Mensch ein Haptiker und habe keine Beziehung zu Downloads.

Der Rest ist Geschichte: Nach Phasen des Nichtwahrhabenwollens, der Versuche mit juristischen Keulenschlägen das Treiben in diesem merkwürdigen Netzdings zu unterbinden, hat die Musikindustrie mittlerweile zähneknirschend einsehen müssen, dass ihre Kunden offenbar doch nicht allesamt so haptisch veranlagt sind wie vermutet - und recht gut auf den Besitz einer Plastikscheibe verzichten können.

Technologischer Wandel und der mit ihm verbundene Niedergang existierender Industrien sind per se kein neues Phänomen. Von den 100 größten Aktiengesellschaften, die im Jahre 1900 an der New Yorker Börse gelistet waren, existierten hundert Jahre später nur noch zwei. Neu ist allerdings die Geschwindigkeit der Veränderungen. Und vermutlich ist es diese Dynamik, die erstaunlich viele Zeitgenossen aus der Medienbranche in das reflexive Verhalten eines alten Hausmeisters flüchten lässt. Erstens: das haben wir schon immer so gemacht, zweitens: da könnte ja jeder kommen, drittens: hier dürfen Sie nicht parken.

Natürlich haben auch die Herrscher der Sender trotzdem inzwischen von diesem Web-Zeugs gehört und genauso natürlich kommt heutzutage kein Medienkongress mehr ohne Gesprächsrunden mit solch einfallsreichen Titeln wie "Chancen und Risiken der Digitalisierung" aus.

Selbstzufrieden

Alte Männer in maßgeschneiderten Anzügen und mit selbstzufriedenen Untertönen in den Stimmen erzählen auf diesen Podien dann immer wieder gerne, dass speziell ihre Fernsehsender starke Marken besäßen, hervorragend aufgestellt und gewappnet für die digitale Revolution seien, dass die Zukunft sowieso nur irgendwie eine buntere Version der Gegenwart und überhaupt sooo schlimm schon nicht werden wird. Zu solchen Gelegenheiten darf auch Gerhard Zeiler, Vorstandschef der RTL-Gruppe, so lustige Sätze sagen wie: "Das traditionelle Fernsehen wird auch in der digitalen Zukunft das Leitmedium Nummer eins bleiben." Klar, Herr Zeiler, und diese kleinen, knatternden, benzingetriebenen Fahrzeuge werden nie zu einer Konkurrenz für eine anständig dampfende Eisenbahn.

Das Verhältnis zwischen Benzinkutschen und Eisenbahnen ist ein hübsches Beispiel für das, was die klassischen Massenmedien derzeit so umtreibt. Das Versprechen, mit dem Henry Ford seine T-Modelle unters Volk brachte, lautete genau genommen: Freiheit.

Das Internet ist das Ford-T-Modell der Medienwelt. Es gibt den Menschen Mobilität; es ermöglicht individuelle Wissens- und Unterhaltungsausflüge. Es ist ein Vehikel für Selbstfahrer, für Abenteurer und Ausflügler. Lineares Broadcast-Fernsehen dagegen ist Konsum nach Fahrplan und steuert viele hochinteressante Orte und Themen gar nicht erst an. Zu geringe Auslastung. Lohnt sich nicht. Strecke stillgelegt, Sendung abgesetzt.

Paradox

Offenbar ist die Individualisierung der Medienreisen speziell für junge Menschen attraktiv. Die Studie "Mediascope 2007" lieferte Anfang 2008 die Fakten zum Trend: Junge Europäer zwischen 14 und 26 Jahren verbringen bereits zehn Prozent mehr Zeit im Internet als vor dem Fernsehgerät. In dieser Altersgruppe ist der TV-Konsum innerhalb nur eines Jahres um fünf Prozent eingebrochen. Quer durch alle Altersklassen lautete die häufigste Antwort (40 Prozent) auf die Frage, woher denn die notwendige Zeit für die vermehrten Netzausflüge käme: weniger Fernsehen.

Und schon sind wir einem interessanten und nur scheinbar paradoxen Phänomen auf der Spur: Immer mehr Menschen schauen immer weniger fern, um im Netz - fernzusehen. Der Senkrechtstarter unter den europäischen Online-Aktivitäten war im letzten Jahr der Video-Konsum, der im Vergleich zum Vorjahr um 150 Prozent zulegte.

Also müssen die Medien zwangsläufig Dependancen in Digitalien aufbauen und sich, ob sie wollen oder nicht, auf die dort herrschenden Naturgesetze einlassen - und die haben es in sich.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie unglamourös sich die deutschen Sender im Netz präsentieren.

Fernsehen, sei umschlungen!

Das Netz ist die größte Entgleichzeitigungsmaschine der Welt: E-Mail, Foren und Blogs haben die Menschen vom Zwang der synchronen Kommunikation befreit. Asynchron ist sexy: Jeder beteiligt sich am Gespräch, wann und von wo aus es ihm beliebt. Statt ihre Freunde mit einem Anruf zu einer Ad-hoc-Kommunikation zu nötigen, ist für junge Menschen längst der ungleichzeitige SMS-Dialog zum beliebtesten Mitteilungsdienst geworden. Zeitnähe schlägt Zeitgleichheit. Und das gilt nicht nur für die Kommunikation, sondern genauso für den Verzehr von Medieninhalten.

Die Menschen in Digitalien haben sich längst andere Sitten und Gebräuche zugelegt als jene, die in Simultanistan herrschen, wo der Rundfunk zu Hause ist. Klar: Dort kann es bisweilen auch ganz toll sein; bei Sportereignissen beispielsweise wird das olle Übertragungsfernsehen auf absehbare Zeit unschlagbar bleiben. Aber wie oft ist eigentlich Fußball-WM?

In die Tonne

Und genau hier beginnt das Problem der TV-Sender bei ihrer Expansion in ein fremdes Land: All die über Jahrzehnte angehäuften Erkenntnisse über Zuschauerverhalten und Programmgestaltung, all die teuren Studien über "Audience Flow" (oder wie die Buzzwords der Rundfunklandregenten alle heißen) kann man beim Grenzübertritt in die Ungleichzeitigkeitssphäre getrost in die Tonne treten.

Und mit noch etwas anderem ist Schluss: mit dem Verkauf fertig geschnürter Bündel. Rund ein Jahrhundert haben die alten Medien prächtig von ihrer Paketpackerei gelebt: Wer das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung lesen wollte, musste den Sportteil mitbezahlen, ob er wollte oder nicht; die zwei Hits eines Popsternchens gab es nur gemeinsam mit zehn weitaus öderen Songs auf einer Plastikscheibe, und TV-Sender konnten selbst mit B- und C-Ware noch akzeptable Zuschauerzahlen erzielen, sofern sie diese im Anschluss an einen Blockbuster versendeten.

Die Paket-Schnürerei hat ein Ende, denn das Netz ist nicht nur der große Entgleichzeitiger, sondern auch der große Entbündeler der Medienwelt. Denn das ist ja gerade eine der vielen schmerzhaften Lektionen, welche die bekanntlich viel zu spät in die Neuzeit aufgebrochene Musikindustrie lernen musste: Einzelsongs lassen sich zwar mehr oder weniger prima über iTunes und ähnliche Shops verkaufen, komplette Alben liegen jedoch wie bleierne Bits in den Datenbanken. Netzbewohner sind nun mal Rosinen-Picker und lassen sich keine Wundertüten mit Gemischtwaren mehr andrehen. Was bleibt also von einem einstmals stolzen Fernsehsender, nachdem das erbarmungslose Netz ihn umarmt hat?

Bauernfängerei

Wer beispielsweise die Adresse rtl.de in seinen Browser tippt, landet auf einem unübersichtlichen Mix aus Programmhinweisen, boulevardesken Nachrichtensimulationen und einer Vielzahl von nicht als Werbung gekennzeichneten Werbe-Links ("Fotoservice", "Jetzt abnehmen!"). Erst durch einen beherzten Klick auf den Button "RTLnow" nähern wir uns der Bewegtbild-Zone (ziemlich weit unten, noch unter "Erotik" und "Horoskope"). Auf RTLnow kann sich schließlich, wer mag, kostenlos Serien wie "Bauer sucht Frau", "Helfer mit Herz" oder "Das Familiengericht" anschauen, Lizenzware aus den USA gibt es indes nur gegen Bares: Knapp zwei Euro zahlt, wer eine Folge CSI sehen möchte. 24 Stunden funktioniert der Zugriff, danach muss erneut in die Tasche gegriffen werden.

Ungefähr genau so viel kostet übrigens eine CSI-Episode, wenn man sie auf DVD kauft - und diese löst sich nach 24 Stunden nicht in Nichts auf. Ob gekauft oder gratis gestreamt: RTLnow funktioniert nur mit der neuesten Version des Windows Media Player. Das gängige Flash-Format, das beispielsweise Youtube nutzt, kommt bei RTL nicht zum Einsatz. Und noch ein kleines Fundstück am Rande: Wer bei der Anmeldung sein Häkchen an der falschen Stelle macht ("Ja, ich möchte RTLnow kostenlos nutzen"), erlaubt es dem Kölner Sender, seine E-Mail-Adresse "zu Marketingzwecken" an "Partnerunternehmen" weiterzugeben. Es mag Menschen geben, die so etwas Bauernfängerei nennen würden.

Hier will man uns nicht

Die ProSiebenSat.1-Gruppe hat den Großteil ihrer Eigenproduktionen derweil in das Video-On-Demand-Angebot Maxdome ausgelagert. Wer sich dort mit vollem Namen, Geburtsdatum und Kontonummer anmeldet, kann Filme und Serienfolgen tageweise "mieten" oder einen Dauerzugriff per unterschiedlicher Abo-Modelle erkaufen - sofern er mit Microsofts Internet Explorer unterwegs ist. Nutzern des populären Firefox-Browsers wird sogar die Anmeldung verweigert. Solcherlei Nutzer-Selektionen waren schon Mitte der 1990er Jahre so unnötig wie nervig, 2008 sind sie gar nicht mehr akzeptabel. Hier will man uns offenbar nicht, also nichts wie weg hier.

Reisen wir weiter zu den öffentlich-rechtlichen Sendern, die sich dank TV-Gebühren keine Sorgen um eine Refinanzierung ihres Online-Angebotes machen müssen und sich im Netz wesentlich entspannter bewegen können als die Privaten. Ausgerechnet der Sender, der offline über das tantigste Image verfügt, zeigt hierzulande die größte Online-Videokompetenz: In der ZDF-Mediathek finden sich aktuelle Nachrichten, Serien, Dokumentationen und Fernsehfilme. Rund die Hälfte der ZDF-Produktionen sollen hier mindestens eine Woche nach ihrer Ausstrahlung zu finden sein - durchgängig in DVD-ähnlicher Qualität. Auch das ZDF verzichtet bislang zwar auf das beliebte Flash-Format und bietet Windows-Media und Quicktime zur Wahl an, allerdings sei Flash bereits geplant, munkelt man.

Immerhin haben die Mainzer beim Mediathek-Relaunch im letzten September das vielgehasste Real-Media-Format entsorgt. Gut so! Aus unerfindlichen Gründen startet die Mediathek jedoch nach wie vor in einem Pop-Up-Fenster und ist nur innerhalb dieses fixen Rahmens zu navigieren. Das externe Verlinken eines speziellen Beitrags, etwa aus einem Blog oder einer E-Mail heraus, ist daher mühsam. Eine spekulative Erklärung dieser Unsitte: Irgendwie will man beim ZDF doch noch ein wenig Fernsehen bleiben.

Ohne Glamour

Unsortiert wie ein verlassener Flohmarktstand präsentiert die ARD ihre Web-Videoauswahl. Die Übersichtsseite "Videos und Podcasts" versteckt sich schamhaft hinter dem Menüpunkt "Interaktiv" und bietet eine zusammengewürfelte Link-Liste, die den Nutzer mal zu formateigenen Homepages, mal zu Unterseiten von Landesrundfunkanstalten führt - und ihn dort seinem Schicksal überlässt. Dieser Irrwegebau ist natürlich der aufgeteilten Verantwortlichkeiten innerhalb der Sendergruppe geschuldet. Ob der Netz-Nutzer allerdings Verständnis dafür hat, dass man ihn aufgrund politischer Befindlichkeiten auf sinnlose Klick-Touren schickt? Hinter den Kulissen wird aber schon an einer senderübergreifenden Mediathek gebastelt, die bereits mehrfach angekündigt war.

Weder Glamourös noch zukunftsweisend sind die Online-Angebote der deutschen Sender. Kein einziger Sender traut sich bislang, das wahre Potenzial zu nutzen, das im Netz schlummert: die Magie der dezentralen Distribution; in Netzsprech auch "Widgetisierung" genannt. Allerdings muss man entschuldigend anmerken, dass dieses Konzept dem alten, massenmedialen Vertriebsgedanken tatsächlich diametral entgegenläuft.

Lesen Sie auf Seite 3, was im Internet wirklich funktioniert.

Fernsehen, sei umschlungen!

Dezentrale Distribution? Zur Erläuterung hilft eine kleine Rückblende zum beispiellosen Erfolg von Youtube: Als drei junge ehemalige Mitarbeiter des Internet-Bezahldienstes Paypal Anfang 2005 begannen, mit Videos im Web zu experimentieren, existierten online bereits etliche ähnliche Plattformen. Die Konkurrenz von Vimeo.com hatte schon ein paar Monate Vorsprung, andere Projekte, etwa das aus Israel stammende Metacafe.com, waren zu diesem Zeitpunkt sogar schon jahrelang aktiv. Auch Flash hatte sich bereits als Quasi-Standard für Videosströme etabliert. Das wirklich Innovative an Youtube war lediglich der Ansatz, nicht nur "Video on Demand" auf einer zentralen Plattform anzubieten, sondern auch "Video to go", Filme zum Mitnehmen.

Die Bilder laufen davon

Der Senkrechtstart der Youtuber basierte einzig und allein auf der kleinen Funktionalität, die es jedermann erlaubt, mit Hilfe eines kleinen Code-Schnipsels Youtube-Videos mitsamt einem Player in eigene Webseiten einzubetten: Schnell nutzten etliche Blogger diese Möglichkeit, um sich das mühsame Enkodieren ihrer Webcam- und Handy-Videos zu ersparen, stellten die von Youtube gewandelten Flash-Videos in ihre Blogs und sorgten auf diese Weise rasch für die Bekanntheit des Newcomers. Youtube-Filme fanden sich auf einmal überall im Netz: in Foren, auf privaten Homepages, selbst Nachrichtenseiten bauten plötzlich ungeniert einzelne Youtube-Filmchen in ihre Meldungen ein, etwa während des Hurrikans Katrina. Die Bilder hatten bei Youtube nicht nur laufen gelernt, sie liefen plötzlich überall und in alle Richtungen davon.

Diese simple und unerhört effektive Methode, die eigenen Nutzer - oder wie es früher hieß: Zuschauer - Bewegtbilder wildwuchsartig im Web verteilen und vervielfältigen zu lassen, statt das Publikum zu sich zu befehlen, mag für die Youtube-Gründer einleuchtend gewesen sein. Medienmachern der alten Schule musste diese Vorstellung nachgerade bizarr erscheinen: Eigene, teuer produzierte TV-Ware sollte plötzlich in den Blogs fremder Menschen auftauchen? Vielleicht sogar angereichert um kritische Kommentare? Die Hoheit über die Verbreitung dem Mob schenken? Wozu dann überhaupt diese aufwendigen Portalseiten?

Natürlich wollten die US-Rechteinhaber ihre Preziosen nicht einfach von einem dahergelaufenen Anarchisten wie Youtube übers Netz streuen lassen und sorgten mit Hilfe ihrer Rechtsabteilungen dafür, dass TV-Produktionen, die immer wieder dort auftauchten, ebenso schnell wieder von Youtube verschwanden. Dass die Netzbewohner immer mehr Spaß an diesen frei flottierenden Bilderfluten fanden, konnten sie allerdings nicht verhindern.

Die heilige Kuh

Das Dumme an der Sache: der Kunde hat immer Recht. Dieser kaufmännische Grundsatz gilt offline wie online. Das jüngste Resultat dieser Erkenntnis nennt sich Hulu.com, befindet sich seit Ende 2007 im geschlossenen Testbetrieb und ist das gemeinsame Kind der beiden US-Medienriesen NBC Universal und News Corp. Auf Hulu.com sollen US-Zuschauer bald TV-Serien und Filme der Premiumklasse genießen können, darunter Schlager wie "Heroes", "CSI", "Simpsons" und "Prison Break". Auf Wunsch Full-Screen und in HD-ähnlicher Qualität. Gleichzeitig werden die Hulu-Inhalte auf namhaften Partnerseiten wie AOL, MSN und Yahoo zu sehen sein und wer will, kann eine Serienfolge sogar ratzfatz in die eigene Website einbauen.

Wer ein wenig Phantasie hat, kann erahnen, welche lautstarken Strategiediskussionen in den NBC- und News-Corp.-Chef-Etagen diesem Projekt wohl vorangegangen sind. Denn sosehr das ungebündelte Hulu-Konzept dem Nutzungsverhalten im Internet entgegenkommt, es opfert zugleich die heilige Kuh der TV-Welt: die Sendermarke. Vielleicht hat während dieser hitzigen Debatten sogar ein kluger Mensch eingeworfen: "Die Sendermarke interessiert im Netz sowieso keinen Menschen mehr." Und falls dies so gewesen sein sollte, hätte dieser kluge Mensch zweifellos recht gehabt.

Projekte wie Hulu.com sind ohnehin dem Umstand geschuldet, dass jeder halbwegs geübte Nutzer gratis an sämtliche populären TV-Inhalte kommt. Über BitTorrent, eDonkey oder in den unergründlichen Tiefen des quasi-antiken Usenet lassen sich allerspätestens ein paar Stunden nach ihrer Erstausstrahlung die aktuellen Episoden jeder Serie auf die heimische Festplatte ziehen. Für Späteinsteiger liegen ganze Staffeln parat. Mittlerweile finden sich an diesen grauen Orten sogar die allermeisten deutschen Produktionen jeglicher Qualitätsstufe. Die Serien-Saugerei ist natürlich illegal, was den Nutzern aber ziemlich egal ist: Fernsehen war schließlich schon immer umsonst.

Das Fernsehen löst sich auf

In einschlägigen Foren wird mittlerweile sogar die Illegalität von TV-Downloads angezweifelt: Für seinen Internet-Anschluss zahle man ja GEZ-Gebühren. Und während Juristenhorden der Rechteinhaber seit Jahren vergeblich versuchen, BitTorrent-Download-Portale wie etwa "The Pirate Bay" zu schließen, nutzte jüngst der staatliche norwegische Fernsehsender NRK eben diese BitTorrent-Technologie, um die Fernsehserie "Nordkalotten 365" in hochauflösender Qualität unters Netzvolk zu bringen. Das Experiment sei ein "großer Erfolg" gewesen, hieß es aus Oslo.

Ob legal gestreamt oder illegal heruntergeladen: Was bleibt also vom Fernseh-Erlebnis unserer Elterngeneration, wenn die Sender konsequent den Weg ins Web beschreiten? Nicht viel, wenn man bedenkt, dass die Entgleichzeitigung die TV-Sender in Videotheken verwandelt und sie durch die Entbündelung auch noch ihre Wahrnehmbarkeit verlieren. Zugespitzt könnte man sagen: Das Fernsehen löst sich auf, zumindest das lineare, immobile.

Um Abhilfe zu schaffen, soll im Sommer dieses Jahres in Deutschland nun endlich DVB-H starten, vulgo: Handy-TV. Dass mobiles Glotzen durchaus Spaß machen kann, hat Apple mit den crispen Displays seiner iTunes- und iPhone-Geräte ja bereits bewiesen. Ob medienaffine Zeitgenossen sich jedoch ausgerechnet in Unterwegs-Situationen die Hoheit über Inhalt, Beginn und Ende eines Filmchens nehmen lassen werden, darf arg bezweifelt werden. Und die Konkurrenz schläft nicht: Für Video-Podcasts und andere Web-Film-Formate gibt es inzwischen RSS-Reader für die meisten gängigen Handy-Modelle, welche die jeweils aktuellen Episoden automatisch auf die Speicherkarten der Telefone laden. Mit einer Daten-Flatrate ist das asynchrone Handy-TV also schon längst Realität - wenn auch bisher eher für experimentierfreudige Nerds. Aber irgendwie war ja alles ursprünglich Nerd-Kram, bevor es Mainstream wurde.

Und nun?

Die Erfolgsgrundlage der alten Fernseh-Nahrungskette war bekanntlich der Mangel, weil nur eine begrenzte Zahl an Wegen in die Wohnzimmer der Nation führte. Wer die Hoheitsrechte über eine dieser Zufahrtsstraßen besaß, konnte ihr stolz einen Namen geben (Sendermarke) und war sich einer Grundaufmerksamkeit gewiss. Wer auf diesen Straßen mitreisen wollte, um die Zuschauer mit einer Werbebotschaft zu beglücken, musste an einen dieser Straßenbewirtschafter Maut entrichten - und das nicht zu knapp. Dieser Zugangsmangel ist nun beseitigt. Das alte Konzept wird wohl nur noch für eine Übergangszeit funktionieren.

Und dann? Natürlich ist das Axiom des Journalisten Wolfgang Riepl weiterhin gültig, das besagt: "Kein neues Medium ersetzt ein altes." Aber genauso können natürlich einzelne Medien an Relevanz verlieren; man denke nur an das Radio, vor dem dereinst ganze Familien gebannt zusammenhockten und das heute (mit wenigen Ausnahmen) zur dudelnden Akustiktapete gemorpht ist. Außerdem: Genau genommen handelt es sich beim Internet nicht um ein einziges Medium, sondern um eine Container-Technologie, mit deren Hilfe mannigfaltige Inhalte und Angebote transportiert werden: Seid umschlungen, Medien!

Auf Dauer hat die Fernsehindustrie wahrscheinlich nur dann eine Überlebenschance, wenn sie sich von ihren industriellen Wurzeln trennt und zu einer Art medialem Risikokapitalisten wird, zu einem Talent-Scout und -Financier, einem Marketing- und Vermarktungsdienstleister. Die Hoheit über die Distributionswege wird sie so oder so verlieren, noch hat sie aber die Chance, an ihren Angeboten mitzuverdienen. Hulu.com ist ein Experiment, das sich bereits in diese Richtung vortastet. Wunschprojektionen à la Gerhard Zeilers "Wir bleiben auch in Zukunft Leitmedium" sind da eher kontraproduktiv. Wichtiger wäre es, das nächste Mal dem bärtigen Mann am Rednerpult zuzuhören, wenn er mal wieder dieses komische Digitalzeugs erklärt.

Mario Sixtus, Jahrgang 1965, lebt und arbeitet als freier Autor und Videojournalist in Düsseldorf. Sein Web-Videoformat "Elektrischer Reporter", das er im Auftrag des Handelsblattes produziert, wurde 2007 mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

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