TV-Kritik: Jahresrückblick 2009:Fernsehragout mit Beigeschmack

Mitten im Quotentief prescht Johannes B. Kerner vor und präsentiert den ersten TV-Rückblick 2009. Doch sein Blitzeifer geht nach hinten los. Eine kleine Nachtkritik.

F. Seng

Der Mensch ist geborener Jäger und Sammler. Auch wenn er den Großteil seines Lebens nicht aufrecht verbringt, sondern sich tagsüber in seinen vom Büroarzt empfohlenen Rollstuhl krümmt, abends auf der Couch wie zerlaufener Käse klebt und verkrustet, bleibt er innerlich doch auf der Jagd nach Höhepunkten. Höhepunkte, die er sich dann ins Erinnungsalbum kleben kann.

Johannes B. Kerner, Oliver Pocher, dpa

Traumgast für einen TV-Jahresrückblick 2009: Oliver Pocher (rechts) - bekommt ein Kind mit einer Becker-Ex, ist Schweinegrippeopfer und war befreundet mit dem verschiedenen Robert Enke - im Gespräch mit Moderator Johannes B. Kerner.

(Foto: Foto: dpa)

Sonderstellung im Programm

Das Fernsehen serviert dem geneigten Zuschauer Geschichten, Emotionen, Höhepunkte - ohne dass er sich dazu mit dem Raclettespachtel mühsam von der Couch abkratzen müsste. Jahresrückblicke nehmen im Programm eine Sonderstellung ein. Zu einem mundgerechten Ragout angerichtet, empfängt der Zuschauer einen repräsentativen Erlebniskanon, die Best-of-Fernsehmomente des Jahres. Beiläufig auch einen Vorgeschmack auf sein mögliches Ende.

Auch wer am vergangenen Abend bei Johannes B. Kerners "2009 - Der große Jahresrückblick" zuschaltete, musste sich Gedanken über das Ende machen. Schließlich trifft einen der erste Jahresrückblick doch immer unvorbereitet, wie ein Blitz, vor allem Anfang Dezember. Gerade noch beim Barbarazweige drapieren, jetzt schon konfrontiert mit der Endlichkeit auch dieses Jahrzehnts.

Viel hilft nicht immer viel

Doch Kerner konnte es sich nicht leisten, auf eventuelle Jahresendzeitängste, Neujahrsvorsatzphobien oder andere Empfindlichkeiten der Deutschen Rücksicht zu nehmen. Er ist im Quotentief. Er muss raus. Er redet nicht nur, er tut was: "Da sind wir einfach mal die Ersten", rechtfertigte er bei der Aufzeichnung am vergangenen Mittwoch den frühen Termin für den Jahresrückblick und wühlte sich durch das Menschen- und Bildmaterial der vergangenen elf Monate. Mit knapp vier Stunden wurde das nicht nur er erste, sondern auch der längste Jahresrückblick für 2009.

Nur: Viel hilft nicht immer viel. Etwas weniger Eifer hätte vielleicht verhindert, dass man sich über weite Strecken wie in einem grausamen Waschsalon fühlte: in dem die Maschine mit möglichst vielen Katastrophen, Kuriositäten und/oder Promis - etwa Traumgast Oliver Pocher (bekommt Kind mit Becker-Ex, Schweinegrippeopfer, befreundet mit dem verschiedenen Robert Enke) - aufgefüllt, dann bei der Programmwahl auf "Schleudern" gedrückt wird, hoffend, dass der Zuschauer ordentlich gerührt und durchgeschüttelt wird.

Auf die überdimensionierte "2009" der Studiokulisse wurden je nach Gast Bilder von Flugzeugabstürzen, Polizeieinsätzen oder Schlagzeilen aus Boulevardzeitungen projeziert; fast im Minutentakt die Gäste durchgeschleust. Der Ex-Topfgucker zeigte sich auf der Höhe seines Könnens und servierte fachgerecht ab.

"Bauer-sucht-Frau"-würdige Kulisse

Etwa den ersten Gast, Antonius Frieling. Flugzeugabsturzüberlebender, wie übrigens - dramaturgisch raffiniert - auch der vorletzte Gast. Frieling wurde aufgrund eines geöffneten Fallschirms aus einem Sportflugzeug gerissen und landete im Kornfeld, erlitt schwere Verletzungen.

Auf dem Strohballen einer "Bauer-sucht-Frau"-würdigen Kulisse darf er Platz nehmen. "Wir sitzen hier in einem angedeuteten Kornfeld", macht Kerner jedoch glasklar und fragt nach den Erinnerungen des Opfers an seinen Absturz. Hat er "leider Gottes" keine. Ach so, dann darf sich jetzt noch kurz der Lebensretter mit ins Stroh setzen, und der Herr Frieling bedankt sich bitte laut und deutlich, und dann weiter.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Johannes B. Kerner anstatt auf Schnelligkeit besser auf sorgfältige Vorbereitung gesetzt hätte.

Die Gästeliste - rasant durchgewunken

Nach dem Duell der beiden Stefan-Raab-Bezwinger Nino und Hans-Martin kommt Margarethe Schreinmakers. Auch ihre Erinnerungen an die Umstände ihres sechsminütigen Herzstillstands sind eigentlich komplett "weg", aber sie darf zum Erzählen immerhin auf die Couch. Bevor es ganz schlimm wird, so lässt sich aus diesen Nahtoderfahrungen ableiten, setzt das Gedächtnis aus. Ob das auch für Fernsehprogramm gilt?

Etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt bekommt Joseph Jackson, der Vater Michael Jacksons, zu dem der Popstar, wie allgemein bekannt, ein gespanntes Verhältnis unterhielt. Im Testament etwa wurde er übergangen, sein Sohn klagte einmal, der Vater hätte ihm mit seinem Ehrgeiz der Kindheit beraubt. Kerner hakt nach: War Joseph Jackson wirklich so ein bisschen streng als Vater? - Naja, vielleicht schon, aber damals, so Jackson, waren ja die Gesetze und Normen anders. Heute würde er es vielleicht anders machen. - Gut.

Katastrophenopfer inmitten des bunten Potpourris

In rasanterem Tempo werden die erste Schweinegrippepatientin Deutschlands oder die letzte Empfängerin der Umweltprämie durchgewunken, zwischendrin das Auto eines total ahnungslosen Studiogastes abgewrackt, eine Diashow illustriert den Beziehungsreigen der Promis im Jahr 2009, Tokio Hotel singen, und Bully Herbig bringt zusammen mit seinen Kinderstars aus "Wickie und die starken Männer" einen Hauch Witz und Charisma ins Studio.

Barbara E., die unterlegene Klägerin im Pfandbon-Prozess, wird in ein putziges, nachgebautes Kassenhäuschen gezwängt, in dem sie - während sich Kerner lässig am Kassierband abstützt - ihrer Empörung kurz Dampf machen darf.

Unangenehm wird das Zuschauen aber vor allem dann, wenn Angehörige von Katastrophenopfern, die ihre Trauer - wie sie selbst zugeben - zum Teil noch nicht verarbeitet haben, befragt werden und sich offensichtlich unwohl fühlen im Rahmen dieses bunten Potpourris.

Da ist etwa die Familie eines Opfers des Amok-Läufers von Winnenden oder die Überlebende des Air-Yemenia-Absturzes mit ihrem Vater, deren traumatischen Erlebnissen man mit ewig gleichen, in indiffertentem Ton gestellten Standard-Fragereien ("Wie haben Sie von der Katastrophe erfahren?", "Welche Erinnerungen haben Sie an das Unglück?", "Wie leben Sie weiter?") kaum gerecht werden kann. Dementsprechend distanziert bleiben die Interviews.

Krönender Abschluss

Ärgerlich wird es, wenn der Moderator in solchen Situationen schlecht vorbereitet ist; etwa Betroffene des Erdrutsches von Nachterstedt fragt, wann sie wieder in ihr Haus zurück könnten, obwohl aus dem zuvor eingespielten Film deutlich wurde, dass das Gebiet für immer geräumt werden musste. Gegen solche Schnitzer hätte vielleicht ein wenig mehr Vorbereitungszeit geholfen. Aber dafür war man ja Erster.

Wer bis hierher durchgehalten hatte, durfte rätseln, warum zum krönenden Abschluss des Jahresrückblicks Franjo und Verona Pooth aufgecoucht wurden. Er steckt immer noch in der Pleite, sie hat 2009 einen Werbedeal mit einem Textildiscounter an Land gezogen, wird nicht müde ihre "Aufgabe als Frau" zu betonen, und dass sie keine Ahnung von den Verstrickungen ihres Mannes hätte, sie überhaupt alle so "richtig schön zusammenhalten".

Vielleicht sind sie da, weil ihre Geschichte so richtig schön in die Adventszeit passt? Oder weil sie schon so oft bei Kerner war und der - wie bereits bei anderen, ihm aus seinen Sendungen bekannten Gästen des Jahresrückblicks - aus Zeitspargründen die alten Karteikarten recyclen konnte? Oder Kerner einfach vergessen hatte, dass die alle schon mal bei ihm in der Sendung waren?

Zumindest die letzte Überlegung birgt Hoffnung. Nämlich dass, wenn es so richtig schlimm wird, tatsächlich die Erinnerung aussetzt. Und auch wer den gestrigen Jahresrückblick gesehen hat, nicht befürchten muss, dass sein Kopfkino eines Tages einen lieblos zusammen gezimmerten Katastrophenfilm zeigt, in dem Kerner sich aus einem angedeuteten Kornfeld ein Rettungspolster bastelt und eine quietschende Stimme über Lautsprecher verkündet, dass der Sinkflug nun unwiderruflich eingeleitet und nicht mehr geholfen zu werden sei.

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