TV-Kritik: BR-Talkshow "Nachtlinie":Das Leben, eine Tram

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Christian Ude, Patricia Riekel und andere Münchner Superbürger auf Schienen: Die BR-"Nachtlinie" entdeckt die Straßenbahn als perfekten Talkshow-Ort.

Christian Kortmann

In einer Straßenbahn fühlt man sich niemals gehetzt oder in Eile. Und dass sie viel langsamer fährt als die U-Bahn, sieht man ihr gerne nach. Denn im Untergrund beraubt man sich freiwillig äußerer Eindrücke, um möglichst schnell ans Ziel zu kommen. Wer in die Tram steigt, bricht hingegen zu einer Ausflugsfahrt durch die eigene Stadt auf, wie in einem dieser infantil-bunten Bummelzüge, die durch Freizeitparks schleichen. Tramfahren, das ist die Auszeit, die dich voranbringt.

Wenn Christian Ude nicht gerade in der "Nachtlinie" interviewt wird, vertreibt er sich die Zeit ganz gerne in einem Tram-Modell im MVG-Museum. (Foto: Foto: Stephan Rumpf)

Wie der Wagen durch die Kurve biegt, Wie die blanke Schienenstrecke vor ihm liegt: Walzt er stärker, schneller.

Die Münchner Tram hat am Zugende wunderbare "Konferenzabteile", in denen man sich gegenübersitzt und die Arme wie Vogelschwingen über die Rückenlehnen ausbreiten kann. Jeder schwankende Geschäftspartner ließe sich durch den Charme dieses Ortes überzeugen: Mit bestem Panoramafenster-Ausblick flaniert man in Fahrradtempo durch die Stadt und sieht sie anders als je zuvor. Die Fahrt mit der Linie 17 vom verwunschenen Seitenausgang des Nymphenburger Schlossparks durch die Innenstadt über die Isar bis nach Bogenhausen liefert beispielsweise einen prächtigen Münchenquerschnitt. Zudem hält sie das weltweit wohl einmalige Kuriosum bereit, dass der Fahrgast drei griechische Restaurants passiert, die alle "Poseidon" heißen.

Die Motore unterm Boden rattern, Von den Leitungsdrähten knattern Funken.

Das Bayerische Fernsehen (BR) hat die Alltags-Entschleunigerin und -Verzauberin Trambahn vor einiger Zeit als Kommunikationsmaschine entdeckt: Auf den "Nachtlinien"-Fahrten rattert Moderator Andreas Bönte mit einem Gesprächsgast zu später Stunde durch die Stadt. An den Haltestellen steigen gelegentlich Freunde oder Bekannte des Gastes zu. Das ist ein so einfaches wie charmantes Konzept, bei dem immer wieder gute Gespräche entstehen, weil jede Äußerung zum Road-Movie-Dialog wird.

Scharf vorüber an Laternen, Frauenmoden, Bild an Bild, Ladenschild, Pferdetritt, Menschenschritt - Schütternd walzt und wiegt der Wagenboden, Meine Sinne walzen, wiegen mit!: Voller Strom! Voller Strom!

Donnerstagnacht ging es auf eine ganz besondere Sonderfahrt: Oberbürgermeister Christian Ude war an Bord, um mit einer Auswahl Münchner Bürger das 850-jährige Stadtjubiläum zu feiern. Wenn es für die singuläre Erscheinung eines sozialdemokratischen Monarchen ein angemessenes Gefährt zur repräsentativen Fahrt durch sein Reich gibt, dann ist das die Straßenbahn. "München findet im Kopf statt", sagte Bunte-Chefredakteurin Patricia Riekel, um dennoch ein erwartbares Loblied auf die Bussi-Bussi-Gesellschaft zu singen: " Bunte und München, da passt nichts dazwischen." Wie zur Mäßigung sprach Ude gleich von den wahren VIP-Zonen der Bürgerversammlungen, in denen er sich "38 Wortmeldungen zum Thema Hundekot auf dem Bürgersteig" anhören muss.

Der ganze Wagen, mit den Menschen drinnen, Saust und summt und singt mit meinen Sinnen. Das Wagensingen sausebraust, es schwillt!

Neben den prominenten Superbürgern kamen, wie es sich seit dem frühen 20. Jahrhundert im Großstadttableau gehört, auch die stillen guten Geister des Alltags zu Wort: Eine Hebamme und der Leiter des städtischen Bestattungdienstes erzählten von ihrer Arbeit; ein Orchesterviolinist geigte die BR-Melodie, ein schwuler Schuhplattler plattelte in der Tram, und Frau Riekel tanzte mit. Die Menschen, neben denen man manchmal in der Straßenbahn sitzt und sich fragt, was sie wohl beruflich machen, bekamen hier plötzlich eine Stimme.

Plötzlich schrillt Die Klingel! - Der Stromgesang ist aus - Ich steige aus - Weiter walzt der Wagen.

So fuhren sie bis drei Uhr morgens kreuz und quer. Manchmal hörte man nicht mehr den Stimmen, die von Speiseeisherstellung, der Zeitung von morgen oder dem Miteinander der Weltregionen redeten, sondern dem Sirren der Elektrischen und dem Kreischen ihrer Räder auf den Schienen zu. Am Ende gab es Freibier, und hinter den Scheiben verschwamm die Stadt zum Film.

Das kursiv gesetzte Gedicht heißt "Auf der Straßenbahn" und stammt vom deutschen Dichter Gerrit Engelke (1890 - 1918).

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