TV-Kritik: "Anne Will":Im Pflegefeuer der Eitelkeiten

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"Menschenunwürdig für beide Seiten": Bei Anne Will wird noch über die Pflege-Katastrophe diskutiert - dabei liegt der Patient schon im Koma. Eine kleine Nachtkritik.

Ruth Schneeberger

"Wir starten hoffnungsvoller als wir enden." Dieser bemerkenswerte Satz fällt in dem sehenswerten Berlinale-Eröffnungsfilm von Tom Tykwer. Auch wenn es in "The International" um traurige Einzelschicksale im großen Weltvernichtungsschlag des Bankensystems geht, trifft das Zitat bestens auf ein anderes brennendes Thema zu: auf den Pflegenotstand.

Große Runde, großes Unbehagen: Autorin Ilse Biberti, Karl Lauterbach (SPD), Daniel Bahr (FDP), der Pflegeexperte Claus Fussek und der Aufsichtsratschef der Marseille Kliniken, Ulrich Marseille (letztere beiden nicht im Bild) diskutierten mit Anne Will über den Pflegenotstand. (Foto: Screenshot: ARD)

Der beschränkt sich längst nicht mehr auf traurige Einzelschicksale.

Nach wie vor gelten die Themen Alter, Krankheit und Tod in den westlichen Gesellschaften als Tabuthemen. Nur in der Not setzen sich Betroffene und Angehörige damit auseinander - um dann zu merken, dass sie völlig unvorbereitet sind.

Gut, dass Anne Will sich mit den Gästen ihrer ARD-Talkshow aus Politik, Pflege und Familien dieses Themas am Sonntagabend ("Angehörige überfordert, Politik machtlos?") annahm. Schade, was dabei herauskam: Die Politik verwaltet das Elend auf einem eitlen hohen Ross, die Pflege ist chronisch unterbesetzt, Familien brechen wegen Überbelastung auseinander - und selbst Pflegeheimleiter würden ihre Angehörigen nicht mehr ins Heim stecken.

Bis auf Daniel Bahr, den Gesundheitsexperten der FDP: Er fühlte sich gut auf das Thema vorbereitet, weil sein Opa in einem Pflegeheim gestorben ist. Bis dahin habe dieser dort gut gelebt - abgesehen von der Tatsache, dass er sein Zimmer mit einem Bewohner habe teilen müssen, der dieselbe Leistung wie der Selbstfinanzierer auf Staatskosten erhalten habe - obwohl er sein Geld durch ein "Leben in Saus und Braus" verprasst habe. Wohlgemerkt habe sein Großvater sich durchaus ein Einzelzimmer leisten können, er sei vielmehr freiwillig in ein Doppelzimmer umgezogen - und dann diese Enttäuschung.

Luxusprobleme

Auf die Luxusprobleme der FDP entgegnete der Gesundheitsexperte der SPD, Karl Lauterbach: "Die meisten Menschen, die arm sind, sind nicht arm, weil sie in Saus und Braus gelebt haben, sondern weil sie schlicht nicht mehr hatten. In der Pflege wie in der Krankenversicherung sollten die medizinischen Versorgungsqualitäten für jeden gleich sein - völlig unabhängig vom Einkommen."

Doch auch Lauterbach musste sich Kritik anhören, meist von Moderatorin Anne Will: Ob er nicht selbst als Mitglied der Regierung zu wenig für die Pflege getan habe, insistierte sie ein ums andere Mal. Das wollten sich beide Gesundheitsexperten aber nicht gefallen lassen und führten die begonnene Pflegereform ins Feld - was bei Pflegeexperten und Angehörigen nur für Lacher sorgte.

Gerade mal 30 Euro mehr im Monat, also einen Euro am Tag, habe die Politik mit der ersten Stufe der Pflegereform in 2008 für Pflegefälle locker gemacht - "und nun lassen Sie sich feiern", schüttelte Claus Fussek, Pflege-Papst und Pflegekritiker aus München, verständnislos den Kopf. "Wenn die Politik sagen würde: 'Wir haben andere Prioritäten, liebe Alte, liebe Demente, für Euch haben wir nicht mehr', dann wäre das ehrlich."

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum pflegende Angehörige benachteiligt werden.

Richtig wütend wurde die Autorin Ilse Biberti, die selbst zu Hause ihre Mutter nach einem Schlaganfall pflegt, nachdem ihr Vater bereits an Alzheimer verstorben ist: Für die Pflegestufe 3 erhält sie nicht einmal die Kassenleistung, anstelle von 1470 nämlich nur 675 Euro Pflegegeld monatlich, um die Mutter zu versorgen - weil sie diese selbst pflegt. Nähme sie die Dienste eines ambulanten Pflegedienstes in Anspruch, würde sie die volle Summe erhalten.

Als SPD-Mann Lauterbach ihr erläuterte, dieser Unterschied käme dadurch zustande, dass manche Angehörige ihre Alten von schulpflichtigen Kindern pflegen lassen würden, um das Geld selbst einzustreichen, platzte Biberti der Kragen: "Was haben Sie bloß für ein Bild von einem Bürger?" Von Einzelfällen werde auf die Allgemeinheit geschlossen, zu Lasten der Alten und Kranken.

Auch in Pflegeheimen sieht es nicht besser aus: Ein Drittel der Heime seien gut, ein Drittel okay und ein Drittel schlecht, wusste Lauterbach zu berichten - welche dies aber sind, und wie sie für Alte und deren Angehörige zu erkennen seien, darüber wird noch beraten. Die Politik versucht es nun mit einem Benotungssystem, bei dem sich allerdings herausgestellt hat, dass Heime und Kostenträger an keiner ernsthaften Bewertung interessiert sind.

Die Kassen sind außerdem angewiesen, Angehörigen eine preis- und leistungsvergleichende Übersicht mit ambulanten Diensten zur Verfügung zu stellen. Auch dies funktioniert in der Praxis nicht. Überdies gebe es viele Heime in Deutschland, stellte Fussek heraus, die wegen unhaltbarer Zustände sofort geschlossen werden müssten. Warum das nicht geschehe, wollte Fussek von Lauterbach wissen. Der SPD-Politiker forderte Geduld - doch diese Zeit hätten viele Alte nicht mehr, so Fussek.

Der Patient als Kostenfaktor

"Irgendwie hat ja ein jeder das Bestreben, mehr einzunehmen als auszugeben. Das ist bei den Wohlfahrtskonzernen so - die stellen 60 Prozent des Marktes, die Privaten haben nur 30 Prozent - und alle verdienen wir Geld", berichtete Ulrich Marseille, der Aufsichtsratsvorsitzende einer Reihe von Pflegeeinrichtungen, was ihn zu seinem persönlichen Schlusswort führte - das Pflegeheim könne nur die letzte aller Lösungen sein.

Dass im Fall der Fälle aber auch ein ambulanter Pflegedienst derzeit keine echte Alternative sei, wusste Ilse Biberti aus ihrem Erfahrungsschatz zu berichten: Deren Beschäftigte seien meist überlastet, schlecht bezahlt oder schlecht ausgebildet - und im schlimmsten Fall alles zusammen. Hilfskräfte würden dort in einem 200-Stunden-Lehrgang nur die allernotwendigsten Dinge lernen, die man auch in zwei Stunden lernen könne.

Viel Zeit gehe schon allein dadurch verloren, dass alles dokumentiert werden müsse, wobei die Kräfte der deutschen Sprache oft nicht mächtig seien. Besser ausgebildete Kräfte würden von einem Patienten zum nächsten jagen, um unter Zeitdruck das Allernötigste verrichten zu können. "Das ist menschenunwürdig für beide Seiten".

Gründlich daneben

Zuguterletzt war eine Expertin geladen, die es wissen muss: Eva Ohlerth hat 20 Jahre lang als Altenpflegerin gearbeitet, erst in der ambulanten Hilfe, danach in Pflegeheimen. Vor einem Jahr kündigte sie ihren Job in einem Pflegeheim bei München. "Ich habe die Zustände im Heim nicht mehr ertragen", sagt sie. Das Altenheim mache die Menschen krank. "Sie verlieren ihre Lebensfreude, ihren Mut und ihre Würde." Alte Menschen seien in erster Linie zum Kostenfaktor geworden, an dem jeder mitverdienen wolle. Um menschenwürdige Pflege gehe es schon lange nicht mehr.

Klingt so, als läge die Altenpflege bereits im Koma. Die Überalterung der Gesellschaft hat gerade erst angefangen - und wenn ihr jetzt schon die dringend benötigten Pflegekräfte weglaufen, dann nicht, weil sie überlastet sind, sondern weil sie das System nicht mehr ertragen. Manche Probleme lassen sich eben doch nicht wegdiskutieren - und so endete wie die meisten Individuen auch Anne Wills Sendung hoffnungsloser, als sie angefangen hatte.

Zum Start hatte die Moderatorin noch vermuten lassen, die Frage, vor der sich alle fürchteten, was nämlich passiere, wenn die Eltern Hilfe bräuchten, könne in der Sendung irgendwie motivierend beleuchtet werden. Das ist leider gründlich daneben gegangen. Wer vorher diese Angst nicht kannte, der muss sie nun haben. Oder hoffen, dass weder ein Angehöriger noch man selbst jemals in die Verlegenheit kommt, alt und krank zu werden.

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