"TV der Zukunft" (3):"Das TV ist am Ende seiner Möglichkeiten"

Hirnforscher Gerald Hüther erklärt, warum man hinschaut, wenn im Fernsehen Mist läuft, und die ersten Menschen vor dem Bildschirm verhungern.

C. Hegner

Beinahe zehn Stunden am Tag nutzen die Deutschen Medien: Fernsehen, Radio, Print, Internet. Vor allem junge Menschen verbringen immer mehr Zeit online. Sie verladen Videos, twittern, chatten und versuchen, auf ihren sozialen Netzwerkseiten nichts zu verpassen. Der Neurobiologe Gerald Hüther, 58, erklärt, wie die moderne Mediennutzung das Gehirn verändert.

serie tv der zukunft

Das erste Bildplatten-Programm, Berlin, 1970: Schlagerstar Manuela lächelt für die neue multimediale Welt.

(Foto: Foto: oH)

sueddeutsche.de: Wie reagieren unsere Gehirne auf die neuen Medien, Professor Hüther?

Gerald Hüther: Das Gehirn wird so, wie man es benutzt. Vor allem, wenn man mit großer Begeisterung dabei ist. Dann werden die emotionalen Zentren aktiviert und neuroplastische Botenstoffe ausgeschüttet, die alle Nervenzellverbindungen stärken, die man für die neuen Medien braucht.

sueddeutsche.de: Was heißt das?

Hüther: Wenn Jugendliche den ganzen Tag mit großer Begeisterung SMS-Botschaften verschicken, führt das dazu, dass im Gehirn aus den kleinen Wegen und Nervenverbindungen Straßen werden, auf denen genau dieser Prozess immer flüssiger abläuft. Wir wissen, dass die Hirnregion, die den Daumen steuert, bei Jugendlichen in den vergangenen zehn Jahren viel größer geworden ist.

sueddeutsche.de: Werden dadurch andere Funktionen im Gehirn verdrängt?

Hüther: Sicher. Wer mit SMS beschäftigt ist, kann nicht gleichzeitig im Wald ein Baumhaus bauen oder Geige lernen. Das wären aber bessere Trainingseinheiten für die Herausbildung komplexer Netzwerke im Gehirn. Man wird durch die präferentielle Beschäftigung mit einer Sache sozusagen zum Fachidioten.

sueddeutsche.de: Zum Fachidioten fürs Simsen?

Hüther: Im schlimmsten Fall ja. Aber da sind ja noch die anderen Medien. Die intensive Beschäftigung mit dem Internet begünstigt die Fähigkeit, schnell Bildmuster zu erkennen. Außerdem trainiert das Bewegen der Maus die Kopplung zwischen Auge und Hand. Und wer viel fernsieht, ist in der Lage, schnelle Szenenwechsel zu begreifen.

sueddeutsche.de: Kann man diese Fähigkeiten auch für andere Dinge nutzen?

Hüther: Fernsehen kann man eigentlich nur zum Fernsehen brauchen. Denn trainiert wird genau das, was man gerade tut - und alles, was so ähnlich ist, zum Beispiel Videos auf dem PC anschauen.

sueddeutsche.de: Also perfektionieren Jugendliche im Internet, was sie beim Fernsehen gelernt haben?

Hüther: Um die Aufmerksamkeit der Zuschauer weiter zu fesseln, ist das Fernsehen in den vergangenen 20 Jahren immer schneller und bunter geworden. Die Jugendlichen, die nur das kennen gelernt haben, können heute keinen Film mehr aus den 50er Jahren ertragen. Ihr Gehirn hat sich an die schnellen Sequenzen angepasst. Mehr als drei Seiten in einem Buch zu lesen, überfordert sie - weil sie verlernt haben, selbst Bilder im Kopf entstehen zu lassen. Schneller, bunter und aufregender als das Fernsehen kann für sie nur noch ein interaktives Medium sein.

Lesen Sie weiter auf Seite 2 über die Konsequenzen veränderter Hirnstrukturen.

Ist da jemand?

sueddeutsche.de: Junge Menschen verbringen heute mehr Zeit online als vor dem Fernseher. Ist das auch eine Konsequenz veränderter Hirnstrukturen?

Hüther: Das Fernsehen ist vor allem bei jungen Menschen am Ende seiner Möglichkeiten angekommen. Der Computer bietet ihnen die Möglichkeit, Bilderwelten interaktiv zu gestalten. So bekommen sie das Gefühl der Selbstwirksamkeit zurück, das ihnen beim Fernsehen fehlt. Dass man sich erst daran gewöhnen muss, nichts bewirken zu können, kann man gut bei kleinen Kindern beobachten: Sie rufen in den Fernseher hinein, weil sie hoffen, sie könnten die Handlung beeinflussen.

sueddeutsche.de: Das Fernsehen erreicht Abend für Abend Millionen von Menschen. Die Mehrheit will sich offenbar passiv berieseln lassen.

Hüther: Im Grunde haben wir alle zwei Bedürfnisse: Eines nach Sicherheit, Zugehörigkeit und Vertrautheit - das liefert das Fernsehen mit den immer gleichen Gesichtern in Nachrichten und Serien. Das zweite Bedürfnis - aktiv mitzuwirken, Aufgaben zu bewältigen und daran zu wachsen - wird durch das interaktive Medium Internet befriedigt. Hier kann man sich selbst in der digitalen Bilderwelt bewegen und diese beeinflussen.

sueddeutsche.de: Wirtschaftskrisen haben die Fernsehnutzung schon immer beflügelt. Bisher ist man davon ausgegangen, dass die höheren Arbeitslosenzahlen dafür verantwortlich sind.

Hüther: Die Arbeitslosen könnten ja auch etwas anderes machen. Je mehr Unsicherheit in die Lebenswelt hineinkommt, um so mehr suchen die Menschen nach Geborgenheit. Und Geborgenheit ist häufig eben nur Vertrautheit: Obwohl es einem gar nicht gefällt, was da im Fernsehen läuft, sieht man trotzdem hin.

sueddeutsche.de: Zuschauer, die ein aufgezeichnetes Programm von der Festplatte ihres Videorekorders oder im Internet gucken, schalten danach häufig noch den Fernseher an, um sich der virtuellen Fernsehgemeinde wieder anzuschließen. Warum?

Hüther: Genau daran sieht man, welche Grundbedürfnisse beide Medien ansprechen: Selbstwirksamkeit und Geborgenheit. Wer sich ein Stück allein auf den Weg gemacht hat, muss sich anschließend vergewissern, ob die anderen noch da sind und was sie gerade tun.

sueddeutsche.de: Wer tagsüber im Internet surft und abends fernsieht hat also schon zwei Grundbedürfnisse befriedigt?

Hüther: Das ist eine Illusion. Denn das Fernsehen ist ja nur die Ersatzbefriedigung dafür, dass man in Wirklichkeit nicht dazugehört. Und das Internet ist nur die Ersatzbefriedigung dafür, dass man tatsächlich keine Aufgaben und keine verlässlichen Beziehungen hat. Wer sich im realen Leben nicht in einer vertrauten Gemeinschaft entfalten kann, der versucht es eben in einer virtuellen Welt. Übrigens ist die einzige Beziehungsform zwischen Menschen, in der beide Partner das Gefühl haben, eng verbunden zu sein und gleichzeitig frei wachsen zu dürfen, die Liebe. In einer immer liebloser werdenden Welt brauchen die Menschen immer mehr Ersatzbefriedigung.

sueddeutsche.de: Die Medienindustrie lebt nicht schlecht von der Ersatzbefriedigung.

Hüther: Geld wird überall dort verdient, wo es Menschen mit unbefriedigten Bedürfnissen gibt. Die Medien kennen diese Bedürfnisse und versuchen, sie so gut wie möglich anzusprechen. Das sieht man zum Beispiel gut an der Entwicklung der Computerspiele. In den alten Einzelkämpferspielen ging es darum, an Herausforderungen zu wachsen. Heute befriedigen WLAN-Partys, Teams und Gilden auch das zweite Bedürfnis nach dem Dazugehören. Trotzdem bleibt es immer nur Ersatz. Mit tatsächlicher Nähe und Aufgaben, die man im Leben bewältigen muss, hat das nichts zu tun.

sueddeutsche.de: Ist das nicht jedem klar?

Hüther: Nein. Wer den Großteil seiner Zeit in virtuellen Bilderwelten verbringt, verliert den Bezug zur Wirklichkeit und zu sich selbst. Im Extremfall verkümmern die Wahrnehmung und Interpretation von Körpersignalen. In Südostasien sind bereits die ersten computerabhängigen jungen Männer vor dem Bildschirm verhungert und vertrocknet.

sueddeutsche.de: Wann machen Fernsehen und Internet krank?

Hüther: Ich glaube, dass Menschen, die sich im realen Leben in Beziehungen geborgen fühlen und Herausforderungen annehmen, nicht oder nur selektiv fernsehen. Sie nutzen auch das Internet als das, was es einmal war: ein Informationsmedium. Unterhaltung braucht jemand, dem etwas fehlt. Eine Gesellschaft, die immer mehr junge Leute unter Bedingungen aufzieht, die frustrieren und unbefriedigte Bedürfnisse erzeugen, produziert die besten Kunden für elektronische Medien.

sueddeutsche.de: Die Fernsehmanager glauben, dass die Begeisterung für das Internet nur Ausdruck einer bestimmten Lebensphase ist. Wenn die Kids älter werden und die Hormone nicht mehr verrückt spielen, sitzen sie wieder vor dem Fernseher und lassen sich berieseln. Gibt es eine Neurochemie des Alterns?

Hüther: Das ist leider eine ziemlich primitive Vorstellung, die den Menschen als Opfer der Chemikalien sieht, die in seinem Gehirn freigesetzt werden. Richtig ist, dass es im Laufe des Lebens bestimmte Phasen gibt, in denen man sehr viel Antrieb hat. Das so genannte dopaminerge System, das die inneren Antriebe in Handlungen übersetzt, ist nach der Pubertät am stärksten ausgeprägt. Danach fängt es an wegzuschrumpeln - und zwar umso schneller, je weniger es gelingt, sich für das Leben zu begeistern. Im Extremfall sitzt man im Alter nur noch herum und mag gar nichts mehr.

sueddeutsche.de: Auf diese Zielgruppe sind die Sender aber nicht scharf.

Hüther: Klar, solche Menschen kaufen immer nur dieselben Produkte - wenn sie überhaupt noch Lust zum Einkaufen haben. Wichtig ist aber zu wissen, dass diese Entwicklung kein Naturgesetz ist, sondern ein Ergebnis unserer Lebensweise. Der Mensch ist in viel stärkerem Maße sozial geprägt, als wir das wahrhaben wollen. Wir übernehmen Gesellschaftsmuster. Wenn kollektiv geglaubt wird, "mit 65 bist Du zu alt für etwas Neues", dann ist das auch so.

sueddeutsche.de: Im Moment spricht doch jeder von den aktiven und konsumfreudigen Silver Agern?

Hüther: Die Gesellschaft beginnt zu entdecken, dass man auch im Alter noch viel bewegen kann. Es gibt immer mehr, die sich mit 75 noch nicht für altes Eisen halten. Wenn wir älter werden, ohne dabei die Neugier und die Offenheit zu verlieren, bleibt auch unsere Mediennutzung so, wie man es von lebensfreudigen Menschen erwartet: selektiv und selbstbestimmt.

Professor Gerald Hüther, 58, leitet die Zentralstelle für neurobiologische Präventionsforschung der Universitäten Göttingen und Mannheim/Heidelberg. Er arbeitet als wissenschaftlicher Berater in Bildungsprojekten und für die Wirtschaft. Hüther ist Autor diverser Bücher, sein neuestes, "Gehirnforschung für Kinder - Felix und Feline entdecken das Gehirn", ist Ende März im Kösel Verlag erschienen.

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