Türkisches Tagebuch (VXII):"Du bist als nächstes dran"

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Bülent Korucu arbeitet wie viele der festgenommenen Journalisten für die Tageszeitung Zaman. (Foto: dpa)

Auf ihrer Jagd nach missliebigen Journalisten schrecken die Behörden nicht einmal mehr davor zurück, Mütter von ihren anderthalbjährigen Kindern zu trennen - und denen zu drohen.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass der Journalismus in der Türkei einer der gefährlichsten Berufszweige ist. Sehr bitter war es dieser Tage, die Hilferufe eines Jugendlichen zu verfolgen, der verzweifelt versucht, seine Mutter aus einer unrechtmäßigen Inhaftierung zu retten. Tarık Korucu tweetet regelmäßig: "Mein Vater ist der Journalist Bülent Korucu. Meine Mutter wird seit sechs Tagen festgehalten, weil er untergetaucht ist. Ich flehe euch an, brecht euer Schweigen angesichts dieser illegalen Tat." Die 45-jährige Hacer Korucu ist Mutter von fünf Kindern und wurde am 31. Juli in Polizeigewahrsam genommen.

Ihre Festnahme war Teil der Aktion, bei der die Behörden 42 Journalisten ins Visier nahmen. Viele von ihnen arbeiteten für die Tageszeitung Zaman, auch Bülent Korucu. Sein Aufenthaltsort ist noch immer unbekannt. Die Polizei verweigerte Hacer Korucu, ihr einjähriges Kind mit ins Gefängnis zu nehmen. Tarıks älterem Bruder wurde mitgeteilt: "Wir werden die Schlinge immer enger ziehen, um deinen Vater aus seinem Versteck zu locken. Du bist als Nächstes dran."

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Tarık Korucu hat bereits einige Abgeordnete und Journalisten wie Can Dündar um Hilfe gebeten. Nur ein Abgeordneter reagierte - Mahmut Tanal von der Oppositionspartei CHP. Der Großteil der türkischen Medien ignoriert diese Geschichte, nur die unabhängige News-Website Diken und die Plattform for Independent Journalism (P 24) berichteten.

Am Donnerstag tweetete Tarık dann, er und seine Geschwister dürften die Mutter besuchen. Sie brauchen einen Anwalt, können aber in der ultrakonservativen Stadt Erzurum keinen finden: "In dieser großen Stadt gibt es keinen einzigen vertrauenswürdigen Anwalt mehr."

Punto24 tweetete am Freitag, dass seit dem Putschversuch 42 Journalisten inhaftiert wurden. Damit werden inzwischen insgesamt 77 festgehalten. Zudem wurden aktuell zwei kurdische Reporter in Yüksekova in der Provinz Hakkâri verhaftet. Vor allem bedeuten die anhaltenden Festnahmen und die Verteufelung des Journalismus, dass inzwischen Hunderte Reporter arbeitslos sind. Sie werden niemals einen Job in den zentral gesteuerten Medien finden, die nun Selbstzensur üben. Laut dem Europäischen Journalismus-Observatorium (EJO) wurden bisher mehr als 100 türkische Medienunternehmen geschlossen und ihr Kapital von der Regierung beschlagnahmt.

Viele von uns, ich bin selbst betroffen, haben ihre Auftraggeber verloren und kein Einkommen mehr. Wenn kein Wunder geschieht oder wir uns der Staatsmacht beugen, werden wir unseren Beruf nicht mehr ausüben können.

© SZ vom 06.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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