Türkisches Tagebuch (VI):Erdoğan treibt die türkischen Eliten ins Ausland

Demonstranten auf dem Taksim-Platz

Die Verbrüderungsszenen auf dem Taksim-Platz können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Land tief gespalten ist.

(Foto: REUTERS)

In der Türkei reicht die Behauptung, man gehöre zu einer "Parallelstruktur", um entlassen oder festgenommen zu werden. Das Land zerbirst.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Die Woche begann mit dem härtesten Durchgreifen in der türkischen Geschichte. Nichts deutet darauf hin, dass es nachlässt. Man muss fürchten, dass es sogar noch eskaliert.

Türkisches Tagebuch

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1958 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt er einen täglichen Gastbeitrag. Deutsch von Bernd Graff.

An die 15 000 Verhaftungen hat es gegeben, zuletzt wurde bekannt, dass gegen 42 Journalisten Haftbefehle erlassen wurden. Die Säuberungen im Staatsapparat und in der akademischen Welt erfassten 70 000 Menschen. Nach Aussage von Präsident Erdoğan vom späten Samstagabend werden von 125 verhafteten Generälen noch immer 119 festgehalten. Dazu 8363 rangniedrigere Offiziere und Soldaten.

1559 der 2101 verhafteten Richter und Staatsanwälte befinden sich noch in Haft sowie 1485 Polizeibeamte und 52 Top-Gouverneure. 15 Universitäten, 35 Krankenhäuser, 104 Stiftungen, 1125 NGOs und 19 Gewerkschaften wurden geschlossen oder verboten. Dazu reichte die Behauptung, sie gehörten zu einer "Parallelstruktur", gemeint ist die Gülen-Bewegung.

Diese offiziellen Daten sprechen für sich und belegen die Dimension der "Gegenwelle".

Die Verhaftungen von Militärs machen das Land anfällig für feindliche Angriffe

Große Fragen sind nun aufgeworfen. 125 verhaftete Generäle von insgesamt 347 Generälen in der türkischen Armee bedeuten, dass mehr als ein Drittel des Generalstabs gemeutert haben und zu den Gülenisten gehören soll. Ein für die Hürriyet arbeitender Kollege, Tolga Taniş, der Washington-Korrespondent, schrieb, dass man dies in den politischen Kreisen der US-Hauptstadt nicht für glaubhaft hält.

Was vielleicht noch größere Besorgnis erregt, ist die Tatsache, dass die Verhaftungen in der Armee das Abwehrsystem der Türkei in eine große Krise geführt haben, die das Land sehr anfällig für feindliche Angriffe macht, insbesondere durch den IS.

Zudem macht sich natürlich Ratlosigkeit breit, nachdem wichtige Institutionen wie Schulen und Krankenhäuser geschlossen wurden. Was wird denn jetzt aus den Studenten und Patienten?

Bislang gab es keinerlei Zusicherung von Präsident Erdoğan oder von Premierminister Binali Yıldırım, dass die Freiheit und Rechte derjenigen, die für Medien, in der Wissenschaft und für Organisationen der Zivilgesellschaft arbeiten, noch respektiert werden. Im Gegenteil: 19 lokale Journalisten in Ankara wurden festgenommen. Ein Reporterin der Nachrichtenagentur ETHA, Ezgi Özer, wurde in der Provinz Dersim verhaftet. Die Rektorin der Dicle-Universität in Diyarbakır, Ayşegül Jale Saraç, wurde ebenfalls festgesetzt. Die Situation von Orhan Kemal Cengiz, einem Kolumnisten und Menschenrechtsanwalt, ist bis heute nicht geklärt.

Die intellektuellen Milieus der Türkei erleben eine Welle von wahllosen Razzien

Nicht überraschend ist, dass es in den intellektuellen Milieus der Türkei Misstrauen und Angst davor gibt, was als eine Welle wahlloser Razzien betrachtet wird.

Wie mein Kollege Can Dündar im Guardian formulierte: "Gut, wir sind vor einem Militärputsch bewahrt worden, aber wer schützt uns nun vor einem Polizeistaat? Gut, wir haben das Militär zurück in die Kasernen geschickt, aber wie rettet man uns vor einer Politik, die in Moscheen ersonnen wird? Diese Frage dann noch an Europa: Werden Sie immer noch kooperieren, weil Erdoğan 'die Schlüssel zu den Flüchtlingen' in der Hand hält? Oder werden Sie sich für seine Unterstützung schämen und zu einer modernen Türkei stehen?"

Ich möchte hinzufügen: Wenn sich dieser bedrückende Trend fortsetzt, wird die Elite aus türkischen Medien, Wissenschaft und der Zivilgesellschaft sowie eine junge Generation, die sich schikaniert fühlt und angesichts eines "Teufelskulturkampfs" seit Jahren verzweifelt, gar keine andere Wahl mehr haben, als auszuwandern. Europa und der Westen sollten dieses realistische Szenario sehr ernst nehmen. Die Türkei zerbirst gerade nach einer unüberbrückbaren Spaltung.

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