Türkische Chronik (XXIV):"Jazz war unsere Waffe, unser Aktionismus"

Music International Jazz Day

Archivfoto aufgenommen 1930: Internationaler Jazz-Tag in der türkischen Botschaft in Washington, D.C.

(Foto: picture alliance / AP Photo)

Der Jazz bedeutete eine Revolution - in der Türkei und den USA. Vor allem die türkische Botschaft in Washington war einst eine Zuflucht für ausgegrenzte Musiker.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

Das wird immer eine meiner süßesten Erinnerungen bleiben: diesen Brief zu erhalten, verfasst in perfektem Englisch, auf gelbem Papier.

Das war im Jahr 1985. Ein Jahr zuvor wurde ich beauftragt, für die türkische Tageszeitung Cumhuriyet über Schweden, Finnland und später auch über die baltischen Staaten zu berichten. Es war eine große Ehre für einen jungen Journalisten, der gerade erst die Journalistenschule in Stockholm absolviert hatte.

Zur Person

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt regelmäßig Gastbeiträge.

Es gab so viel zu berichten, vor allem aus dem Bereich Kultur. Aber ich hatte größere Pläne. Die Kulturseite der Cumhuriyet war zwar anerkannt, die Musikberichterstattung darauf war aber absolut konservativ, nur auf klassische Musik beschränkt. Ganz klar: der Herausgeber, Nadir Naid, war ein Amateurgeiger, "unheilbar besessen" von Mozart und Beethoven. Mir war allerdings klar, dass ich mehr als genug über Rock, Pop und, insbesondere, über Jazz, meine unheilbare Liebe, wusste.

Ich einigte mich mit meinem Redakteur und konnte auch die anderen Redakteure davon überzeugen, dass Jazz, Rock und Tango einen festen Patz auf den Kulturseiten erhalten müssten. Das war, das können Sie mir glauben, eine Revolution.

Ich zögerte keine Sekunde, einen meiner Helden, Nesuhi Ertegün, um Unterstützung zu bitten - ich rechnete allerdings nicht mit einer Antwort. Nesuhi Bey oder "Herr Nesuhi", wie er genannt wurde, war der ältere Bruder einer weiteren Legende, Ahmet Ertegün. Nesuhi Bey war der Kopf von WEA International Records, er erschien damals unerreichbar für mich.

Sie können sich vielleicht denken, wie verwundert und glücklich ich war, als dann dieser gelbe Brief in meinem Postkasten landete. Höflich und warm wünschte man mir darin viel Glück, und Bey ergänzte noch, dass er den europäischen Ablegern von WEA die Anweisung gegeben habe, mich mit Material zu versorgen, und dass ich tatsächlich gute Chancen habe, Interviews mit all jenen unter ihren unglaublich vielen Klienten führen zu können, die mich interessierten.

Ich war im siebten Himmel! Ich werde Nesuhi Bey immer dankbar sein für die Texte, die ich danach für die Cumhuriyet schreiben konnte, ihm, den jeder wichtige Jazzmusiker in den USA mit dem Segenswunsch "May God bless his soul" in Erinnerung behielt.

Atatürks vertrautester Diplomat

In diesen Tagen, in denen jedes Land darüber nachdenkt, was mit dem Amerika, wie wir es kennen, passieren wird, mit seiner großartigen Kultur, die nach dem Ersten Weltkrieg Humanität mit Freude und Hoffnung belohnte, in diesen Tagen markiert die beeindruckende Geschichte dieser zwei Brüder - und ihres Vaters, Munir Ertegün - die acht Dekaden lange Hassliebe zwischen den USA und der Türkei.

Vater Ertegün stammte aus einer prominenten Sufi-Familie, nach dem Zweiten Weltkrieg schloss er sich dem Gründer der Republik Atatürk in Ankara an und blieb sein vertrautester Diplomat.

Nach Aufenthalten in Frankreich und Großbritannien war seine letzte Station als Botschafter Washington DC, wo er mit seinen beiden Söhnen - sie waren damals 18 und zwölf Jahre alt - zwischen 1934 und 44 lebte. Das Bemühen von Vater Ertegün, die Türkei und die USA einander näherzubringen, war so konstruktiv und wurde so sehr respektiert, dass sein Körper nach seinem Tod im Rahmen einer feierlichen Zeremonie mit der Fregatte der United States Navy zurück nach Istanbul gebracht wurde. So begann eine Zeit der türkisch-amerikanischen Allianz, als Ankara seine Ein-Parteien-Regel abschaffte, pluralistische Wahlen einführte und begann, sich europäischen Strukturen zuzuwenden.

In dem Dokumentarfilm "The House that Ahmet Built" beschreibt Ahmet Ertegün, wie glücklich er war, als sein Vater den Brüdern sagte, dass sie nach Amerika ziehen werden. "Amerika bedeutete für uns drei Dinge", sagt er. "Cowboys, Indianer und Jazz." Sie waren begeistert, endlos neugierig. 1935 war Ahmet einer der Ersten, der die damals junge Ella Fitzgerald um ein Autogramm baten.

Die Leidenschaft seiner Söhne beeinflusste auch ihren Vater sehr. Die majestätische türkische Botschaft in Washington DC wurden Mitte der 1930er-Jahre zu einem Mekka der damals ausgegrenzten Jazz-Musiker, die lange Nächte mit Jamsessions verbrachten und den strengen Vater Ertegün schlaflos, griesgrämig und nachsichtig zurückließen. Nächtelang wurde dort Jazzgeschichte geschrieben, mit Jamsessions von Lester Young, Benny Carter, Coleman Hawkins, Johnny Hodges und vielen anderen.

"Sie können sich nicht vorstellen, wie stark die Rassentrennung damals in Washington war", sagte Nesuhi 1979 in einem Gespräch mit der Washington Post. "Also haben wir Konzerte organisiert. Jazz war unsere Waffe, unser Aktionismus."

Das nächtliche Treiben in der Botschaft verursachte natürlich Spannungen. Ein Congressman aus Texas schrieb dem Botschafter Ertegün einen Brief, in dem er seinen Schock darüber zum Ausdruck brachte, dass "Negroes" wie selbstverständlich durch den Haupteingang der Botschaft spazierten. Ertegüns Antwort darauf ist legendär: "Wir empfangen unsere Freunde stets durch den Haupteingang. Wenn Sie uns einmal besuchen werden, sind Sie unser Gast, wir werden aber sicherstellen, dass wir Sie am Hintereingang empfangen."

Jazz-Musiker, kulturelle Botschafter der Nachkriegszeit

Der Rest ist Geschichte. In beiderlei Hinsicht, politisch wie kulturell. Die Ertegün- Brüder halfen, der USA den größten Schatz zurückzugeben, den sie hat: die Black Music in all ihren Formen.

Die USA hatten es bis vor Kurzem geschafft, uns etwas anzubieten, das wir nicht verweigern können

Jazz-Musiker waren bald die mächtigsten kulturellen Botschafter der Nachkriegszeit, mit einem Fokus auf Freiheit. 1956, während eines legendären Besuchs in der Türkei, trafen Dizzy Gillespie und Quincy Jones den talentierten Komponisten Arif Mardin,der sich später als Produzent des Who-is-Who des Soul und Pop der 1960er-Jahre einen Namen machte. Dizzy half auch dem großartigen Trompeter Maffy Falay dabei, sich in der europäischen Szene zu etablieren.

Wie so viele Deutsche wuchsen auch wir städtischen Kinder in der Türkei in den Fünfziger- und Sechzigerjahren mit dieser Musik auf. Sie war Sauerstoff für unsere langweiligen Existenzen, eine Quelle des Tagträumens, unsere Seelennahrung für Veränderung und Rebellion. Ich bin ewig dankbar dafür, dass sie half, mich und viele andere davor zu bewahren, uns von verschiedenen Dogmen versklaven zu lassen.

Trotzdem entwickelte sich die Beziehung zu Amerika für viele zu einer Hassliebe. Der Widerspruch lag in den Umständen des Kalten Krieges, die für die Linke in der Türkei, Griechenland, Italien und anderswo eine Qual waren. Das Bild jener USA, die die "Menschenrechte verrieten" und den gerechten politischen Wettkampf abwehrten, der in diesen Geografien so notwendig gewesen war, verankerte sich tief in der Erinnerung der Linken - eine bis zum heutigen Tag unheilbare Antipathie.

Trotzdem hat die Großmacht es bis vor Kurzem geschafft, uns etwas anzubieten, das wir nicht verweigern können. Diese Zeiten sind aber ganz offensichtlich vorbei. Es naht eine neue Ära, die nur Hässlichkeit verspricht und Intoleranz, Schikanen, dumme und kalte Isolation.

Die nun beginnende Trump-Ära wird auf den Werten herumtrampeln, die Amerika einst so groß machten, sie wird all die Klänge, die die Ertegün-Brüder zu ihrer utopischen Idee einer in Hoffnung und Vertrauen geeinten Welt inspirierten, zur Erinnerung an eine längst vergangene Zeit werden lassen. Der rassistische Congressman, dem Münir Ertegün damals eine Lektion erteilte, scheint nun wieder an die Macht gekommen.

Der Autor, geboren 1956, ist Journalist, Blogger und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Julia Niemann.

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