Türkische Chronik (XL):Rechtfertigen Erdoğans Schikanen einen Hungerstreik?

Türkische Chronik (XL): Nuriye Gülmen (r.) und Serdar Özakça bei einem Protest in Ankara.

Nuriye Gülmen (r.) und Serdar Özakça bei einem Protest in Ankara.

(Foto: AFP)

In Ankara hungert eine Frau öffentlich. Und die Türkei streitet, welche Mittel im Kampf für die Demokratie erlaubt sind - und womit man nur der Regierung in die Hände spielt.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

"Wenn die Macht das Leben ins Visier nimmt, dann wird das Leben selbst ein einziger Widerstand gegen die Macht."

Dieses Motto, das oft bei Demonstrationen auf öffentlichen Plätzen zu hören und zu lesen war, ist weiterhin aktuell. In der vergangenen Woche hat ein Erlass nach dem anderen das Leben der türkischen Bürger kaputt gemacht, vom Lehrer bis zum Journalistin. Sie werden in die Arbeitslosigkeit getrieben, Karrieren werden verbaut, sie werden dafür bestraft, dass sie ihren Unmut über den enormen Machtzuwachs Präsident Erdoğans öffentlich ausgesprochen haben.

Die Verschärfung der Säuberungen hat eine Debatte unter den Intellektuellen losgetreten, in der es um das Recht zu leben geht, um Herdenmentalität, und darüber, ob das Sterben für seine Ideale ein moralischer Akt ist oder nicht. Die Debatte wurde teilweise so erbittert geführt, dass mit Flüchen und Schimpfworten um sich geworfen wurde. Sie war aber auch so tief greifend, dass Spinoza, Derrida, Marx, Kant, Sartre, Said und andere zitiert wurden.

Im Mittelpunkt der Diskussion stehen zwei Aktivisten: Nuriye Gülmen und Serdar Özakça. Zwei Lehrer, die im vergangenen Herbst willkürlich ihre Jobs verloren haben. Nuriye Gülmen war die Erste, die vergangenen November zu demonstrieren anfing, alleine, mit einem Plakat in der Hand, auf dem "Ich will meinen Job zurück" geschrieben stand. Sie wurde regelmäßig verhaftet, kehrte aber immer wieder auf den Platz zurück. Irgendwann schloss sich Serdar Özakça ihr an. Auch er war Lehrer und gefeuert worden.

Seit ich Anfang März schon einmal von ihnen berichtet habe, hat sich ihr ziviler Widerstand zu einem Hungerstreik entwickelt. Sie fordern die Aufhebung des Notstandsgesetzes, das Ende der willkürlichen Entlassungen, Arbeitsplatzsicherheit für die Angestellten des öffentlichen Dienstes und - das zeigt ihre Vorliebe für den Widerstand - die Wiederbeschäftigung aller "revolutionären Demokraten".

Fast zweieinhalb Monate später bekommt ihre Aktion immer noch große Aufmerksamkeit. Während die regierungsfreundlichen Kolumnisten die beiden ehemaligen Lehrer beschuldigen, dem linken Untergrund anzugehören, spotten AKP-Anhänger in den sozialen Medien, warum sie noch kein Gewicht verloren haben. Einige schicken ihnen Mahlzeiten. Wer sich solidarisch mit ihnen zeigt, wird des Platzes verwiesen. Ihre Aktion führte zu weiteren Hungerstreiks im ganzen Land. Einige Beiträge linker Gelehrter trugen zur Mythenbildung bei, dass die streikenden Lehrer, "einen stummen Schrei vervielfachen würden, indem sie dem Tod trotzten, der andere erreichen würde, nämlich diejenigen, die das Leben zwar lieben, dem Tod aber bereitwillig ins Auge sehen würden".

Dies führte zu großen Einwänden einiger Intellektueller, allen voran von der international bekannten Philosophin Zeynep Direk der Koç-Universität in Istanbul, die die moralische Legitimität einer solchen Aktion infrage stellte, sie als gespiegelten Märtyrertod bezeichnete und mit der Vorgehensweise von Dschihadisten verglich.

Als ich von einem Freund auf die Debatte aufmerksam gemacht wurde, bemerkte ich, dass die sozialen Medien ein einziger Kampfschauplatz sind. In der Schusslinie befand sich Zeynep Direk, die für ihre Aussagen heftig von linker Seite beschimpft wurde. "Halt die Klappe!", war da noch das Harmloseste. Doch sie ließ sich nicht beirren: "Ich werde das aussprechen, was ich denke", schrieb sie, unterstützt von einer Gruppe besorgter Intellektueller. "Wir wissen, dass die staatlichen Repressionen sie zum Hunger gebracht haben", schrieb sie auf Facebook, "aber jeder hat seine Freunde, seine Vertrauten. Man kann zusammenhalten, bis die Zeiten sich ändern. Zerstört ein Hungerstreik bis zum Tod nicht das Vertrauen, das wir in diese Beziehungen haben sollten?"

"WIr müssen unsere Köpfe benutzen"

Zeynep Direk ging noch weiter. Laut der Philosophin war Gülmens erste Aktion noch ein ehrenwerter Widerstand. "Bis jetzt", schrieb sie, "sahen wir einer Akademikerin zu, die jeden Tag mit einem Lächeln auf der Straße stand, die von Passanten mit Essen und Getränken versorgt wurde, und die hat sich nun in eine Selbstmordaktivistin verwandelt. Lasst uns da nicht von ihrem eigenen Willen sprechen, weil der Wille selbst unter allen möglichen Einflüssen steht. Wahrscheinlich erleben wir eine Kapitulation vor jenen Kräften, die Einfluss ausüben. Das Leben kann nicht auf diese Weise verteidigt werden. Ich distanziere mich von allen Gruppen und Strukturen, die nur aufgrund von Zweckmäßigkeit hinter dieser Aktion stehen."

Als sie weiterhin verbal gelyncht wurde, sagte sie: "Ich wende mich nicht an den Staat, weil der nicht länger existiert. Ich richte mich an Einzelne und Gruppen. Es gibt nichts zu verteidigen, wenn jemand auf die moralisch falsche Weise auf Misshandlungen reagiert. Die beiden müssen davon überzeugt werden, dass ihre Handlungen falsch sind. Einzig und allein das kann der Standpunkt der Gelehrten sein. Wir müssen unsere Köpfe benutzen, anstatt uns selbst Schaden zuzufügen."

An diesem Punkt schlossen sich einige Menschen ihrer Meinung an. Menschen, die sich in den Neunzigern an den Hungerstreiks in den Gefängnissen beteiligt hatten. Für sie bestand ein großer Unterschied zwischen einem Gefangenen und einem Menschen, der seinen Job zurückwill.

"Die Seelen der Intellektuellen, die Gewalt befürworten, werden früher oder später verrotten."

"Resilienz", schrieb Zeynep Direk einigen, die Marx zitierten, "ist der Wille, ein neues Leben aufzubauen. Wenn der Staat alles andere als ein Staat ist, dann sollten wir einzig und allein alles daransetzen, dass er auf seine Grundlagen zurückgesetzt wird und die menschliche Integrität anerkennt. Psychische Widerstandsfähigkeit, Überlebenswille, die rationale Diskussion, Solidarität, Freundschaft und Ausdauer durch die schwere Zeit hindurch, das sind die richtigen Lösungen. Nun sagst du mir, Kant schon wieder, bourgeoiser Liberalismus? Was ist denn mit ein wenig Marx? Es mag hart für dich sein, aber dies könnte tatsächlich die Zeit sein, in der Kant Marx voraus ist, meinst du nicht?"

Und weiter: "Wenn wir Intellektuelle wie Edward Said mal beiseitelassen, der Menschen beistand, die Zustände ähnlich denen in einer Strafkolonie aushielten, sollte ein Intellektueller dann das Opfer von Menschenleben der Kinder seines Landes verteidigen? Am Ende, wenn der Staat diese Kinder zermalmt hat, wie kannst du dann noch in die Gesichter ihrer Mütter sehen? Wären diese Leute nicht böse auf dich? Die Seelen der Intellektuellen, die Gewalt befürworten, werden früher oder später verrotten. Sie verenden unter dem Gewicht der Toten, denen sie beigepflichtet haben. Es gibt so viele Menschen, die unter Depressionen leiden und dem Denken feindselig gegenüberstehen. Also egal, unter welchen Bedingungen wir leben müssen, bitte versuche nicht, einer dieser Intellektuellen zu sein, die den Tod vergeistigen und damit wie Totengräber handeln."

Zeynep Direk stellt in der turbulenten und krisengeschüttelten Türkei eine Ausnahme dar. Die Verzweiflung der marxistischen Linken ist eine schlichte Tatsache. Sie findet keinen politischen Konsens mit dem ziemlich unterwürfigen Volk, ob es nun fromm oder kemalistisch-säkular ist. Was wiederum dem anderen Ende der politischen und religiösen Überzeugungen in die Hände spielt, den Dschihadisten. Die Gefahr, die nun entsteht, ist eine Wiederholung der modernen türkischen Geschichte. Die beiden Hungerstreikenden nähern sich jeden Tag ihrem Tod. Sie sind im Prinzip "Gefangene" ihrer Unterstützungskampagne. Und wenn es zur Tragödie kommt, wird es den Staat kein bisschen kümmern. Familienangehörige und Freunde werden leiden, und alle anderen werden es als Sieg verbuchen.

Der Autor ist Journalist und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Anna Fastabend.

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