Türkei:Lyrik mit der Spraydose

Dichten als Protest gegen die Regierung: Warum die Jugend in der Türkei sich auf eine avantgardistische Lyrikbewegung aus den Fünfzigern bezieht.

Von Achim Wagner

"Als verharrten wir in einem stockdunklen Satz" lautet ein Vers des türkischen Dichters Edip Cansever (1928 - 1986). Es ist einer der Verse, die in den vergangenen Jahren in der Türkei auf Hauswände und Parkbänke geschrieben und gesprüht, bei Protestveranstaltungen rezitiert, in den sozialen Medien geteilt wurden. Er drückt Verzweiflung und gescheiterte Hoffnungen aus, und ist gleichzeitig eine Reminiszenz an die türkische Avantgardebewegung İkinci Yeni (Zweite Neue), eine Dichtergruppe um ihren Vordenker İlhan Berk, der auch Edip Cansever angehörte.

Türkei: "Als verharrten wir in einem stockdunklen Satz" ist ein beliebtes Zitat.

"Als verharrten wir in einem stockdunklen Satz" ist ein beliebtes Zitat.

(Foto: Achim Wagner)

Nachdem sich die türkische Dichtung Ende des 19. Jahrhunderts, parallel zum Ende des Osmanischen Reiches, langsam westlichen Einflüssen öffnete, kam es mit der Republikgründung und der Einführung des lateinischen Alphabets zu einem Bruch mit den traditionellen osmanischen Dichtformen, denen das arabische Schriftsystem zugrunde lag. In den Fünfzigerjahren entstand in der neu ausgerichteten türkischen Lyrik die "Zweite Neue", eine Bewegung, deren poetologische Überlegungen das lyrische Geschehen in der Türkei bis heute beeinflussen. Zwei zentrale Forderungen dieser Bewegung waren, dass die lyrische Sprache artifiziell zu sein habe und dass das Gedicht unpolitisch sein solle. Beide Punkte richteten sich gegen die herrschenden Poetiken dieser Zeit, die für das Gedicht eine möglichst einfache Sprache und einen direkten politischen Anspruch verlangten.

Vor und während der Demos wurden Gedichte vorgelesen und Verse auf Banner geschrieben

"Das ist von mir", sagte Ada, die Englisch auf Lehramt in Ankara studierte, und deutete bei einem gemeinsamen Spaziergang Ende 2015 auf handgeschriebene Zeilen an einer Mauer in einer Gasse im Zentrum der türkischen Hauptstadt. "Es ist eines der ersten Gedichte, das ich in die Straßen schrieb, es kam mir in den Sinn, als ich im Frühjahr 2014 zum letzten Mal demonstrieren war und wir vor der Polizei wegrannten, die unsere Demonstration mit Tränengas angegriffen hatte. Mit zwei Freundinnen blieb ich hier, bis sich das Tränengas wieder verzog."

Während sie wartete, hat Ada das Original des Gedichts "Foto" des İkinci-Yeni-Dichters Cemal Süreya (1931 - 1990) an der Mauer hinterlassen:

Foto

An der Haltestelle drei Personen

Mann Frau und Kind

Die Hände des Mannes in den Taschen

Die Frau hält das Kind an der Hand

Der Mann ist traurig

So traurig wie traurige Lieder

Die Frau ist schön

So schön wie schöne Erinnerungen

Das Kind

So traurig wie schöne Erinnerungen

So schön wie traurige Lieder

Der Ausbruch der Proteste um den Istanbuler Gezi-Park Ende Mai 2013, der wenige Tage später zu landesweitem Aufruhr führte, überraschte nicht nur die Regierung, sondern auch die älteren türkischen Generationen. Galt doch die jüngere Generation, die die Proteste anführte, als unpolitisch und uninteressiert an gesellschaftlichen Fragen. Nahmen an den damaligen Demonstrationen auch zahlreiche straff organisierte rechte und linke Gruppierungen teil, waren es vor allem junge Menschen in den urbanen Zentren, Schüler und Studenten, die keinem politischen Lager zuzurechnen waren und keiner Ideologie folgten, die wochenlang auf die Straße gingen. Sie sahen ihre individuellen Freiheitsrechte durch die immer restriktivere Politik der Regierungspartei mit dem damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Präsidenten Erdoğan bedroht und erhoben dagegen ihre Stimme. "Wir wollen niemanden, der uns sagt, wie wir zu leben haben", war eine häufig gehörte Aussage.

Auffällig an dem Aufruhr war der Gebrauch von Lyrik als eine Form des Protests. Es gab Gedichtlesungen vor und während der Demonstrationen, Verse wurden auf Banner und Kartonschilder geschrieben, an Wände im öffentlichen Raum gesprüht. Dabei griffen die jungen Demonstranten weniger auf politisch agitierende Poesie zurück, sondern vielmehr auf die Lyrik der Dichter der Zweiten Neuen, in der oft individuelle, lakonische und bisweilen surreale Weltsichten vermittelt werden. Cemal Süreyas zweiversiges Gedicht mit dem schlichten Titel "Kurz": "Das Leben ist kurz / Die Vögel fliegen" und "Haltestelle Himmelsschau" mit seinem Anfang "Wir beide können uns plötzlich freuen, lass uns in den Himmel schauen ..." von Turgut Uyar fanden früh Einzug in den Kanon der Protestslogans.

Der Himmel als Sehnsuchtsort und Bild für grenzenlose Freiheit, mit seinen Vögeln, die sich naturgegeben in dieser Freiheit bewegen, und das Blau, das sich als die Farbe der Grenzenlosigkeit im Inneren des Individuums spiegelt: "Blau ist ein Wesenszug von mir" (Edip Cansever). Die Hoffnung der Gezi-Demonstranten, mit ihrem Widerstand die Regierungspolitik beeinflussen oder verändern zu können, schwand mit dem harten Vorgehen der staatlichen Sicherheitskräfte gegen die Protestierenden. Demonstranten kamen ums Leben, in Istanbul wurden der besetzte Gezi-Park und der Taksim-Platz geräumt, in Ankara gab die Unterstützerinitiative, die sich ebenfalls in einem Park gegründet hatte, nach etwa 100 Tagen auf. Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen einzelne Gruppen wegen versuchten Umsturzes begannen, Studenten drohte der Verlust ihres Studienplatzes aufgrund ihrer Beteiligung an den Demonstrationen.

Tensions Grow As Demonstrations Against The Government Continue In Istanbul

Für viele der protestierenden Jugendlichen in der Türkei, wie hier auf einem Hausdach am Istanbuler Taksim-Platz, ist die Dichtergruppe İkinci Yeni (Zweite Neue) Trost und Inspiration zugleich.

(Foto: Uriel Sinai/Getty Images)

Auch wenn noch bis Anfang Juni 2014, um den ersten Jahrestag von Gezi, immer wieder größere Proteste ausbrachen, vornehmlich in den Millionenstädten im Westen der Türkei und hauptsächlich getragen von linken Organisationen, erreichten sie nicht mehr das Ausmaß und die Nachhaltigkeit von 2013.

Aber Lyrik als Protestform blieb dem öffentlichen Raum erhalten, es entwickelte sich eine eigene Bewegung, die sich diesem Thema verschrieb. Im September 2013 führte eine anonyme Gruppe von Liebhabern der Gedichte der Zweiten Neuen auf Twitter den Hashtag #şiirsokakta (Das Gedicht ist auf der Straße) ein. Unter Verwendung dieses Hashtags wurden von da an Aufnahmen von Versen, die auf Straßen und Wände geschrieben waren, geteilt und weiterverbreitet. Erste Videos von kleinen Gruppen, die nachts mit Stiften und Sprühdosen für #şiirsokakta loszogen, wurden auf Youtube hochgeladen. Lyrikfreunde in zahlreichen Universitäten begannen, Werkstätten für "Das Gedicht ist auf der Straße" zu organisieren, Bäume mit Gedichtzetteln zu behängen.

Alle größeren politischen Ereignisse in der Türkei finden seitdem ihren Widerhall auch in diesen poetischen Kommentierungen, die von der Straße, von Schulen und Universitäten in die sozialen Medien getragen werden. Weiterhin sind es Arbeiten der İkinci-Yeni-Dichter, die dabei eine exponierte Stellung einnehmen. Der Duktus der nun zitierten Gedichte ist dabei allerdings weitgehend melancholisch - "Du weißt, wo immer ich auch bin, dort ist die Hauptstadt der Einsamkeit" (Cemal Süreya) - und auch resignativ (wie beim Eingangszitat von Edip Cansever).

Die Studentin lässt die Regierung wissen: "Einfach werden sie es mit uns nicht haben."

Die Terroranschläge in Ankara und Istanbul von 2015 bis 2017, die militärischen Auseinandersetzungen im Südosten des Landes, der blutige Putschversuch vom 15. Juli 2016 mit den zugehörigen politischen Auswirkungen, den staatlichen Repressionen, haben dazu geführt, dass viele junge Menschen keine Zukunft mehr für sich in der Türkei sehen können. "Einige meiner Freunde sind schon gegangen, aber die meisten von uns können nicht so einfach weg und das Land verlassen", meinte Studentin Ada bei einem späteren Treffen im Frühjahr dieses Jahres. "Außerdem sind unsere Familien hier, und ich selbst wüsste auch gar nicht, wo ich hinwollte."

Sie sagt, dass bei der Abstimmung zum Referendum am 16. April die überwältigende Mehrheit der Erstwähler gegen das Präsidialsystem gestimmt habe. "Einfach werden sie es mit uns nicht haben, so viel steht fest", fügt sie trotzig an. Ada setzt sich auf die Stufen einer Überführung und kramt in ihrer Handtasche nach einem Textmarker. "Ich benutze ihn nicht mehr so häufig, aber ich habe ihn immer noch jeden Tag dabei." Sie schreibt ein paar Verse von Turgut Uyar auf eine Stufe und fotografiert diese dann mit ihrem Smartphone: "Wir haben derartige Dinge gesehen / dass ich es nicht mehr vergesse / dass wir es nicht mehr vergessen wollen".

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: