Tour de France im Jahr 1924:Wir fahren mit Dynamit!

Grausame Prüfung für Körper und Geist: An diesem Wochenende startet das Drogenspektakel namens Tour de France. 1924 war das Rennen noch viel härter und Doping keine Sünde, sondern Zwang. Französische Tour-Reportagen schildern, wie absurd die mörderischen Strapazen schon damals waren.

Alex Rühle

Sie erinnern sich? Tour de France? Das war dieses französische Drogenspektakel und Verlogenheitshappening ersten Ranges. Epo? Ich? Niemals! Clenbuterol? Wie schreibt man das? Das muss aus den Koteletts meines Metzgers stammen. - Bitte, kann sich denn nicht einer dieser Fahrer mal ein Beispiel nehmen an Henri Pélissier?

Roger Lapébie begießt Mario Vicini auf einer Etappe der Tour de France, 1937

Erfrischung in den jungen Tagen der Tour de France: schlichtweg zu viel für den menschlichen Körper.

(Foto: SCHERL)

Es war am dritten Tag der Tour de France von 1924, auf der Strecke zwischen Cherbourg und Brest. Pélissier, der Favorit, der im Jahr zuvor die Tour gewonnen hatte, brach plötzlich zusammen mit seinem Bruder Francis und dem gemeinsamen Freund Maurice Ville das Rennen ab.

Der Reporter Albert Londres fand die drei Aussteiger im Bahnhofscafé von Coutances vor einer heißen Schokolade. Er hat sich kaum zu ihnen gesetzt, da echauffiert sich Pélissier, die Tour sei ein einziger Leidensweg und holt aus seinem Beutel Ampullen hervor: "Das ist Kokain für die Augen, und dies hier ist Chloroform fürs Zahnfleisch. Und schauen Sie nur, das ist eine Wärmesalbe für die Knie", klärt Ville auf, der seinen Verpflegungsbeutel ebenfalls leert. "Dürfen es auch ein paar Pillen sein? Wollen Sie welche sehen? Hier bitte." Jeder kramt drei Schachteln aus seinem Beutel. Francis bringt es auf den Punkt: "Wir fahren mit Dynamit."

Soweit die Anekdote, die als erste sogenannte Dopingbeichte in die Annalen des Radsports einging. Abgedruckt wurde die Szene, in der Pélissier so hemmungslos seine Mittel auspackt, damals in der Zeitung Le Petit Parisien. Jetzt kann man sie, pünktlich zum Tourstart, erstmals auf deutsch lesen: Der Bielefelder Covadonga-Verlag hat die Tourreportagen von Albert Londres aus dem Jahr 1924 als Buch herausgebracht ("Die Strafgefangenen der Landstraße", 124 Seiten, 12,80 Euro).

Londres war ein Starreporter seiner Tage, Tucholsky bezeichnete ihn mal als französischen Egon Erwin Kisch - "ein gebildeter Mann, der von einer großen Reporterleidenschaft wirklich besessen durch die Welt getrieben wird." So gebildet er gewesen sein mag, von der Tour hatte Londres, als ihn Le Petit Parisien zur Tour losschickte, keinerlei Ahnung: Er denkt an der ersten Verpflegungsstelle noch, die sei ein Buffet für alle Interessierten und ist etwas konsterniert darüber, dass ihn die ausgehungerten Fahrer rüde abdrängen.

Beleg für die Schinderei

Gerade dieser unvoreingenommener Blick aber macht diese Texte dann im Folgenden so interessant, klingt Londres doch immer fassungsloser angesichts der Überforderung, die die Tour für alle Fahrer darstellt.

Liest man die 12 Reportagen am Stück, so merkt man, dass es falsch wäre, bei Pélissiers wütendem Auspacken von einer "Beichte" zu sprechen, impliziert dieses Wort doch immer das Schuldgefühl eines "Sünders". Die Brüder Pélissier aber zeigen ihre Mittel ganz offen, das Kokain ist ihnen Beweismaterial, Beleg für die Schinderei, über die sie sich mit stolzer Empörung beschweren.

Auch Londres kommentiert die Szene mit keinem Wort des Missfallens, er kommt im weiteren Verlauf auch nicht noch mal darauf zurück, es folgen vielmehr Schilderungen von Pélissier, die belegen, dass diese Tour schlichtweg zu viel ist für den menschlichen Körper: "Manch einer fällt beim Duschen in Ohnmacht; sobald der Schlamm abgespült ist, sind wir kreidebleich wie ein Leichentuch. Durchfall peinigt uns. Und die Fußnägel fallen auf den Etappen nach und nach ab; bei mir sind es sechs Nägel."

Start um Mitternacht

Die Tour war seinerzeit 5425 Kilometer lang, die in 15 Etappen gefahren wurden. Henri Desgranges, der Erfinder der Rundfahrt, verkaufte die Rundfahrt als "grausame Prüfung für Körper und Geist". Weshalb er zusätzlich zum ohnehin mörderischen sportlichen Rahmenprogramm schikanöse Regeln ersonnen hatte: Gangschaltung war verboten, Flickzeug mussten die Fahrer selbst dabeihaben, drei bis fünf Reifenwechsel am Tag waren keine Ausnahme, schließlich ging es über Schotter, Matsch und staubige Pisten. Die Fahrer starteten um Mitternacht oder gegen zwei Uhr morgens und saßen oftmals über 20 Stunden im Sattel.

Als Jean Alavoine bei einer der Pyrenäenetappen erschöpft hinter der Zielgeraden stehenblieb, näherte sich ihm laut Londres ein Polizist: ",Los, vorwärts! Schneller! Weiter!' Alavoine holte ein Messer aus dem Beutel, hielt es dem Ordnungshüter hin und sagte mit atemloser Stimme: "Hier, töten Sie mich auf der Stelle!"

Wie gut geht es da doch den Fahrern unserer Tage. Die Tour ist 2000 Kilometer kürzer. Die Drogen werden in den Begleitfahrzeugen transportiert. Und bevor einer wie Londres die Fahrer ungeschützt sprechen könnte, werden die in ihre Mannschaftswagen gelenkt.

Aber was wäre das schön, einmal nur so eine Szene wie im Café von Coutances, Alberto Contador, der sein Clenbuterol auspackt. Hier, schauen Sie, das sind die Spritzen. Und hier haben wir die Blutkonserven.

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