"Totem" im Kino:Schreckgespenst Spießertum

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Vom Eierlikör-Begrüßungstrunk bis zur Beinahe-Vergewaltigung: Die Haushaltshilfe Fiona erlebt in "Totem" den Horror des Kleinbürgertums zwischen Hemdsärmeligkeit, albtraumhafter Gemütlichkeit und Sadismus. Jessica Krummachers Hochschul-Abschlussfilm setzt ein Zeichen der Hoffnung für das deutsche Autorenkino.

Rainer Gansera

"Wenn ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren", überschrieb Dante die Höllenfahrt in seiner "Göttlichen Komödie". Jessica Krummachers Spielfilmdebüt "Totem" erkundet die alltägliche Hölle eines kleinbürgerlichen Universums, in dem nicht das kleinste Hoffnungslicht flackert. Ein faszinierender Trip ins Verwunschene, der seinen peinigenden Realismus von Anfang an hinüberspielt ins Albtraumhafte. Das Schreckgespenst Spießertum wird hier weder verjuxt noch psychologisiert, sondern wie bei einem schamanistischen Exorzismus heraufbeschworen und gebannt.

Haushaltshilfe Fiona (Marina Frenk) ist alltäglichen sadistischen Ritualen ausgesetzt. (Foto: Filmgalerie 451)

Schauplatz: ein Einfamilienhaus irgendwo im Ruhrgebiet. Eine Art Autismus-Bunker, in dem jeder vor sich hinlebt, und das Alltäglichste sogleich den Subtext sadistischer Rituale erkennen lässt. Schon der erste Eierlikör-Umtrunk, mit dem Fiona (Marina Frenk) begrüßt wird, erscheint eher als Nötigung denn als Willkommensgeste. Die junge Frau beginnt ihren Dienst als Hausgehilfin bei der Familie Bauer.

Ein bizarres Panorama stellt sich ihr dar: ein Hausherr, der sich lieber um den Vorgarten kümmert als um die Familie; eine überforderte Ehefrau, die sich im verfrühten Klimakterium wähnt und mit verblüffend lebensechten Baby-Puppen spielt; die 15-jährige Tochter, die sich mit einem doppelt so alten Nachbarn vergnügt. Dazu ein fünfjähriger Sohn, zwei schwarze Kaninchen und eine lebensgroße Schäferhundstatue aus Porzellan.

Von Fionas Vorgeschichte erfährt man wenig. Sie sagt, ihre Eltern seien tot, aber kurze Zeit später telefoniert sie mit ihrer Mutter und erzählt ihr von einer Urlaubsreise ans Meer. Ihr neues Lebensumfeld erweist sich als Labyrinth der Einsamkeit, in dem jeder Moment des In-Beziehung-Tretens zu einem Akt des Übergriffs wird.

Schutzlos ist Fiona den Launen und Zudringlichkeiten ausgesetzt, die sich bis zu einer Beinahe-Vergewaltigung steigern. Die Hemdsärmeligkeit, die bei Familie Bauer herrscht, ist ein permanenter Angriff auf die Grenzen, die eine Person um sich ziehen müsste, um Person sein zu können. Ein Un-Ort mit Un-Personen, und das Fatale ist, dass Fiona dem gar nicht entkommen will.

Psychoanalytiker könnten das "Totem"-Szenario als Fundgrube für die Diagnose aktueller familiärer Dysfunktionalitäten hernehmen: infantile Regressionen, Inzestuöses, Gemütlichkeit und Sadismus. Der Film selbst steuert auf keine solche Ausdeutung zu, er will in jeder Szene Momente abgrundtiefer existentieller Verstörung zeichnen. Mit den Mitteln eines improvisatorischen Spiels, das bisweilen ins Voluntaristische verwischt, insgesamt aber prägnante Horrorbilder aufruft: das Wohnzimmersofa erscheint als Folterbank, die Straße als Kampfzone, das Solarium als Sarg.

Totem" wurde als Abschlussfilm an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film hergestellt, uraufgeführt in der Reihe "Settimana della Critica" bei den Filmfestspielen von Venedig. Jessica Krummachers Albtraumspiel unterscheidet sich markant von dem, was das aktuelle deutsche Kino standardmäßig zu bieten hat, von den Vulgärklamotten und den rührseligen Betroffenheitsexerzitien. In seiner künstlerischen Eigenwilligkeit und unbedingten Wahrheitssuche ist "Totem" ein Zeichen der Hoffnung fürs Autorenkino.

TOTEM, D 2011 - Buch und Regie: Jessica Krummacher. Kamera: Björn Siepmann. Mit: Marina Frenk, Natja Brunckhorst, Benno Ifland, Alissa Wilms. Filmgalerie 451, 86 Minuten.

© SZ vom 26.04.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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