Tod und Terreur:Am Kältepol

Im neuen Roman von Fred Vargas liegt nördlicher Nebel über Paris - und die Wiederkehr des eisigen Robespierre lässt die Temperatur abstürzen.

Von Lothar Müller

Was muss zur Hilfe kommen, wenn ein Kommissar bei der Aufklärung eines Falles nicht weiterkommt, wenn er im Nebel stochert? Natürlich der Geistesblitz, der ein übersehenes Detail in helles Licht taucht, die plötzliche Erkenntnis, die den Nebel vertreibt. Der Pariser Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg ist ein Spürhund sondergleichen, kein unbeachtetes Detail ist vor ihm sicher. Aber die Geistesblitze schießen bei ihm nicht aus der hoch entwickelten Intelligenz des klassischen Detektivs hervor. Mit der reinen Vernunft liegt er beständig im Clinch, reiche Wissensbestände, auf die er zurückgreifen könnte, hat er nicht. Er verfügt vielmehr über eine profunde Unbildung, die aber sein Orientierungsvermögen nicht beeinträchtigt. Keiner beherrscht so wie er die Kunst, im Nebel zu stochern. Je dichter der Nebel, desto abwesender sein Blick, und je abwesender sein Blick, desto dichter ist er dem Geheimnis auf der Spur.

In bisher acht Kriminalromanen hat die französische Autorin Fred Vargas ihren Kommissar Adamsberg auftreten lassen, in diesem neunten hat sie sich den Spaß erlaubt, ihn einmal in einen richtigen Nebel zu schicken. "Das barmherzige Fallbeil" heißt dieser Roman auf Deutsch, aber damit ist nur ein Teil erfasst. "Temps Glaciaires" heißt er im Original, und eiskalte, gletscherne Zeiten haben in ihm zwei weit entfernte Schauplätze fest im Griff.

An dem einen, auf einer kleinen Insel nördlich von Island, am Rand des Polarkreises, ist es ohnehin meistens kalt. Hier ist vor zehn Jahren eine französische Touristengruppe vom Nebel, der im hohen Norden rasch aufzieht und zur tödlichen Gefahr werden kann, eingeschlossen worden, und als sie nach mehr als zwei Wochen gerettet wurde, waren zwei Mitglieder erfroren. Mit der Enthüllung, dass die beiden Toten Mordopfer waren, beginnt der Roman. Und kaum ist dies geschehen, sinkt auch in Paris und Umgebung die Temperatur, Nebel zieht auf, und Kommissar Adamsberg hat als Selbstmorde getarnte Mordfälle aufzuklären.

Landscapes. Iceland. 2010

Im Nebel und in der Kälte Islands muss Kommissar Adamsberg sich bewähren.

(Foto: Paolo Pellegrin/Magnum)

In Paris aber ist der Temperatursturz von anderer Art. Hier finden die Morde in den Reihen der "Gesellschaft zum Studium der Schriften Maximilien Robespierres" statt, einer sehr eigentümlichen, schwer durchschaubaren Gesellschaft, die sich mit der Lektüre der Schriften und Reden ihres Helden durchaus nicht begnügt. Sie stellt vielmehr die Nationalversammlung in den Zeiten der Schreckensherrschaft in Perücke und Kostüm nach, in theatralischer Maske, die Texte im Kopf, keineswegs nur von der Lust am historischen "Re-Enactment" vorangetrieben.

In Paris steht "der bleiche, eisige Robespierre" im Zentrum einer Serie von Morden

Schon immer hat Fred Vargas gern Wiedergänger aus der Geschichte Frankreichs in ihre aktuellen Fälle zitiert, Erinnerungen an Zeiten der Pest und magische Rituale im gegenwärtigen Paris wachgerufen. Ihre Polizisten haben Laptops, rasen schon mal mit Autos zu Tatorten und steigen in Flugzeuge, aber sind doch nicht immer ganz von dieser Welt. Oft geraten sie an Falltüren, die aus den Sphären des Alltäglichen hinausführen.

Leseprobe

Einen Auszug des Romans stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Eine solche Falltür ist hier die Gesellschaft der einander unbekannten, strikt anonymen Mitglieder der Gesellschaft zum Studium Robespierres. Sie umfasst nicht nur seine Bewunderer, sondern auch die Robespierre-Hasser und diejenigen, die von ihm wider Willen fasziniert sind, Nachkommen der Opfer der revolutionären Schreckensherrschaft ebenso wie Nachkommen ihrer Protagonisten. Eine heiße Leidenschaft treibt sie an bei ihrem peinlich genauen theatralischen Nachspielen der Revolution, treibt sie dem Kältepol des Schreckens entgegen, dem "bleichen, eisigen Robespierre".

Ein Mörder, der raffiniert wie ein Schachspieler vorgeht, seine Zeichen setzt und Spuren hinterlässt, die bei oberflächlicher Lektüre in die Irre führen, treibt in diesem Roman sein Unwesen. Und wer den Kommissar Adamsberg noch nicht kennt, sollte sich diese Gelegenheit, ihn kennenzulernen, nicht entgehen lassen. Denn Fred Vargas begnügt sich nicht damit, den Nebel über Island und den Pariser Nebel, in dem der Kommissar und seine Brigade stochern, die legendenumwobenen Gletscher am Polarkreis und den eisigen, am Kältepol der Vernunft agierenden Robespierre virtuos zu verknüpfen.

Tod und Terreur: Fred Vargas: Das barmherzige Fallbeil. Kriminalroman. Aus dem Französischen von Waltraud Schwarze. Limes Verlag, München 2015. 512 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.

Fred Vargas: Das barmherzige Fallbeil. Kriminalroman. Aus dem Französischen von Waltraud Schwarze. Limes Verlag, München 2015. 512 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.

Sie nutzt vielmehr den Plot, um eine Revolte unter den Kollegen gegen Kommissar Adamsberg anzuzetteln, in der seinem Stellvertreter Danglard die Hauptrolle zufällt. Danglard ist fasziniert vom Fall Robespierre, denn er ist nicht nur überhaupt ein wandelndes Lexikon, Wikipedia auf zwei Beinen, er ist ein Kenner der französischen Revolutionsgeschichte - und, wie Robespierre, ein Radikalist der Vernunft.

Adamsberg kennt gerade mal Robespierre, Danton und Desmoulins eher nicht, und er ist anders als der Städter Danglard vom Lande, aus den Pyrenäen, sein Verstand beginnt auf Hochtouren zu arbeiten, wenn die unwillkürliche Erinnerung an eine Geste, ein Geräusch, einen Gesichtsausdruck ihn auf eine Spur setzt. Wenn eine "Kaulquappe" in ihm hochsteigt, der "formlose Anfang einer Idee".

Schon immer ließ Fred Vargas den Commandant Danglard am Verstand des Kommissars irre werden. In diesem Roman über das Stochern im Nebel hat sie mit erkennbarer Lust den Fall so konstruiert, dass er die Intelligenz und das beträchtliche Wissen Danglards auf hinreißende Weise brüskiert.

Es macht überhaupt nichts, dass all die getürkten Symbole, die theatralischen Intrigen, Kindesaussetzungen und Identitätsvertuschungen überaus konstruiert sind. Sie wollen und sollen es sein, denn Fred Vargas ist die große Unruhestifterin in dem Bündnis, das der moderne Kriminalroman mit dem literarischen Realismus geschlossen hat. Daraus, dass ihre Romane aus allen möglichen Ingredienzien konstruiert sind, machen sie kein Hehl.

Wenn der Kommissar bei ihr schließlich zu der großen Rede ansetzt, die alle Puzzleteile zusammenführt, demonstriert er gerade nicht die siegreiche Logik, sondern das Gesetz der Kaulquappe. Wie Adamsberg am Ende sowohl die im Nebel Islands begangenen Morde wie die im Pariser Mummenschanz um den "eisigen" Robespierre aufklärt, wird natürlich nicht verraten. Außer, dass der isländische Dämon Afturganga dabei eine wichtige Rolle spielt.

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