Tocotronic im Interview:Die Jugend - Hölle oder schönste Zeit des Lebens?

Tocotronic, Die Unendlichkeit

Als Letzte auf der Bank: Rick McPhail, Arne Zank, Dirk von Lowtzow und Jan Müller.

(Foto: Michael Petersohn)

Die Tocotronic-Musiker Dirk von Lowtzow und Jan Müller im Gespräch über den Mythos der eigenen Vergangenheit.

Interview von Kathleen Hildebrand 

"Alles was ich will, ist nichts mit euch zu tun haben", "Liebes Tagebuch", "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein": Als Tocotronic in den Neunzigerjahren anfingen, Musik zu machen, handelte die meist von den Schmerzen des Erwachsenwerdens. Ihr neues Album "Die Unendlichkeit", das am Freitag erscheint, ist eine Pop gewordene Autobiografie des Sängers und Songwriters Dirk von Lowtzow. Zeit für ein Gespräch mit ihm und dem Bassisten Jan Müller über das Älterwerden und den Blick zurück auf sich selbst als junger Mensch.

Ihr neues Album ist autobiografisch, viele Lieder halten Rückschau, vielleicht spürt man hier und da sogar ein bisschen Nostalgie - sind Sie gerade in der Midlife Crisis?

Dirk von Lowtzow: Das müssen andere beurteilen. Als Mann würde man das ja grundsätzlich abstreiten. Aber nein, ich habe eigentlich nicht den Eindruck. Und ich finde das Album auch nicht so wahnsinnig nostalgisch. Weil das ja bedeuten würde, dass man sich zurücksehnt in die Zeit der Jugend, in die gute alte Zeit. Und das ist nicht der Fall. Wir beschreiben Kindheit und Jugend durchaus ambivalent.

In der aktuellen Single "Electric Guitar" klingt die Jugend aber ganz gut: "In meinem Zimmer unter dem Garten/ Fühl ich mich sicher/ Ich kann's euch verraten"?

Dirk von Lowtzow: Natürlich gibt es auch schöne Momente. In "Electric Guitar" geht es um so eine Art musikalische Individualisierung oder Selbstwerdung durch Popmusik. Aber es bleibt nicht bei der Rückbesinnung auf die Jugend. Es geht dann in den Texten weiter in die jüngere Vergangenheit, in die Gegenwart und auch in die Zukunft.

So etwas wie "Die Haare im Gesicht/der Wind von Altona" in dem Lied "1993" klingt schon ein bisschen nach Jugendromantik.

Jan Müller: Das ist das einzige Stück, das man unter Nostalgie-Verdacht stellen könnte. Aber das, was da beschrieben wird, nämlich die Gründung der Band, ist ja nicht nur Vergangenheit. Die Band besteht ja noch und deshalb finde ich es nicht nostalgisch. Da begann ja lediglich etwas, was wir bis heute fortgeführt haben.

Vielleicht liegt der Eindruck auch an etwas Formalem: Die Texte von frühen Tocotronic-Liedern waren oft sehr konkret, wirkten stark autobiografisch. Dann, ab dem weißen Album wurden sie abstrakter. Jetzt geht es wieder um Sachen wie das Angestarrtwerden auf der Straße als junger Mensch. Wieso diese Rückkehr zur autobiografischen Konkretion?

Dirk von Lowtzow: Ich hatte jetzt zum ersten Mal das Gefühl, tatsächlich zurückblicken zu wollen und das auch mit Gewinn tun zu können. Ich habe die Texte dann zuerst unter Verschluss gehalten, weil ich mir nicht so sicher war: Was ist das und in welche Richtung wird das gehen? Wenn es um das eigene Leben geht, zweifelt man viel, weil man es ja nicht glorifizieren will. Man will nicht einfach nur Nabelschau betreiben. Und dann hab ich mich aber entschlossen, sie Jan vorzuspielen und der war gleich ganz angetan. Er hat mir sehr geholfen und diese Texte lektoriert. Als sein eigener Biograf oder als Ethnologe seiner selbst neigt man natürlich immer dazu, zu verfälschen oder ein bisschen um die Wahrheit drum herum zu schlingern.

Auch die Sprache ist wieder konkreter, einfacher.

Dirk von Lowtzow: Vielleicht ist es einfach so: Man fängt beim Konkreten an, beim Darstellungsrealismus, fast tagebuchartig. Dann interessiert man sich eher für Abstraktion und für theoretische Texte. Und dann kommt man aber auch wieder zu einer Einfachheit, die einen, weil sie so eine große Kraft hat, begeistert.

Jan Müller: Das Album handelt zwar von Dirks Biografie, aber mich hat sehr berührt, dass die Texte so eine große Nachvollziehbarkeit und Allgemeingültigkeit haben, ohne sentimental zu werden. Es gibt ja auch Popsongs, die ganz krass mit dem Holzhammer diese sentimentale Schiene bedienen. Das ist so eine unangenehme Schmalzglocke, in die man da gezogen wird. Ich reagiere da immer ganz allergisch drauf.

Weil das manipulativ ist?

Jan Müller: Ja, und weil ich die Grunderzählung daran falsch finde: dass die Jugend die tollste Zeit ist, nach der man sich zurücksehnen muss. So sehe ich das Leben nicht. Die Jugend ist natürlich sehr wichtig und vielleicht ist sie besonders intensiv in der Wahrnehmung. Aber wenn wirklich alles darauf zurückfokussiert, das finde ich dann ein bisschen, ja, reaktionär.

"Ich hatte als Kind sehr viele Ängste und Phobien"

Wie schafft man es, diese Sentimentalität zu vermeiden?

Dirk von Lowtzow: Mich haben beim Schreiben eher innere Vorgänge interessiert oder Dinge, die man abgespeichert hat wie einen Film. Die Jugend-Stücke auf der Platte sind sehr filmisch in ihrer Erzählweise. Wie eine Kamerafahrt. Oder es gibt eine Tonspur: den Wind in den Bäumen, der rauscht. Oder das Vor-dem-Spiegel-Stehen, das sind filmische Erinnerungen. Wenn man sich in so etwas hineinversetzt, statt in Begebenheiten wie: "Das war mein 9. Geburtstag", oder den Erinnerungsprozess selbst thematisiert - dann entgeht man dieser Falle vielleicht.

Was waren Sie für Kinder, für Teenager? Und sind Ihnen diese Kinder heute noch sehr präsent?

Dirk von Lowtzow: Ich hatte eine sehr glückliche Jugend. Sehr behütet, kleinstädtisch, aber natürlich auch eng, wie es in Kleinstädten wie Offenburg, wo ich aufgewachsen bin, eben ist. Aber ich hatte als Kind sehr viele Ängste und Phobien und natürlich erinnert man sich an so etwas. Auch an das Gefühl, nicht dazu zu gehören oder nicht in so eine Jungswelt reinzupassen, die von Stärke und von Sportlichkeit dominiert ist.

Jan Müller: Das ist etwas, was uns alle eint und deshalb haben wir auch zueinander gefunden. So kommt man dann eher zur Musik und zu dieser Art von Kunst, wie wir sie betreiben.

Die Außenseitererfahrung ist ja ganz essenziell für das Tocotronic-Frühwerk. Wird man nur dann Künstler, wenn man die gemacht hat?

Jan Müller: Um das so generell zu sagen, ist die Kunst wohl ein zu weites Feld. Es gibt ja nun auch ganz andere Künste, zum Beispiel Schnitzaltare in der Kirchenkunst. Dafür braucht man, glaube ich, keine Außenseitererfahrung. Aber für unsere Band ist das schon sehr wichtig.

Dirk von Lowtzow: Und vielleicht für eine Generation von Popmusikern und Popmusikerinnen, die mit einer bestimmten Art von Musik aufgewachsen sind. Wir sind ja geprägt von Punk und Post-Punk und von David Bowie, Roxy Music oder Morrissey, die eine andere Form von Männlichkeit kreiert haben. Dieses Leiden, das dieser junge Mann da in die Welt singt, konnte ich total nachvollziehen. Als ich meine Electric Guitar bekommen hab, wollte ich eine ganz ähnliche Person werden. Und das ist natürlich eine Außenseiterposition. Pop- und Rockmusik haben immer ein bisschen damit zu tun.

Der Außenseiter ist ja ein Urtypus der Popkultur, wenn man sich amerikanische High-School-Filme ansieht ...

Dirk von Lowtzow: Eben. Da gibt es immer die sportlichen Typen und die Cheerleader und auf der anderen Seite gibt es die Freaks. Da muss ja was dran sein. JM: So ist es auch in Wirklichkeit (lacht). Wenn man Musiker werden will, ist es sehr hilfreich im Sport zu versagen.

Trotzdem klingen die neuen Texte etwas gnädiger. In der ersten Single "Hey Du" heißt es zum Beispiel zu jemandem, von dem der Erzähler beleidigt und bedroht wird: "Es zieht dich zu mir hin/Weil ich auf der anderen Seite bin". Bewirkt das Älterwerden, dass man weniger hasst?

Dirk von Lowtzow: Bei dem Beispiel ging es mir um so eine bestimmte Form von Hochnäsigkeit oder Stolz. Dass man sagt: In diesem Angeglotztwerden steckt natürlich eine Bedrohung. Ich war als junger Mann wirklich schrecklichen Beleidigungen und Bedrohungen ausgesetzt. Aber natürlich habe ich daraus auch Selbstbestätigung gezogen. Du nennst mich zwar Schwuchtel, so wie ich hier rumstolziere, aber vielleicht ist das ja gewollt? Weil ich ja auch provozieren will und all die Angst, die ich hab, gibt mir natürlich auch eine Stärke. Diese Position finde ich grundsätzlich interessant - diesen Narzissmus.

Wie sahen Sie aus, als Sie so beleidigt wurden?

Dirk von Lowtzow: Mit hartem Schlag ins New Romantichafte. Gefärbte Haare, glamig und mit einer Strass-Jeansjacke, das ging so ein bisschen ins Culture-Club-Boy-Georgemäßige. Damit kannst du natürlich in so einer Offenburger Fußgängerzone am allermeisten provozieren.

Wie war das in Hamburg, wo Sie aufgewachsen sind, Herr Müller?

Jan Müller: Beleidigungen gab es auch in der Stadt. Ich hatte auch bunte Haare, war vermutlich etwas punkaffiner als Dirk. Aber ein Lederjackenpunk war ich nicht. Das war mir dann doch fern, dieses Harte. Allein wegen meiner Statur hätte das ja auch lächerlich ausgesehen. Ich war eher ein Soft Punk. Aber klar, es war auch in den Hamburger Randbezirken tatsächlich gefährlich, weil die Skinhead-Kultur damals ins rechte Lager driftete. Wenn man Pech hatte, zum Beispiel in der U-Bahn oder an der Bushaltestelle, musste man die Beine in die Hand nehmen.

"Das Gehirn strukturiert sich gerade etwas um"

Dieses Hadern mit der heimatlichen Umgebung als junger Mensch ist in "1993" sehr schön in dem Wort "Schwarzwaldhölle" zusammengefasst. Blicken Sie heute versöhnt auf die Orte Ihrer Jugend?

Dirk von Lowtzow: Ja natürlich. Der Schwarzwald ist ja einfach objektiv eine wunderschöne Landschaft. Ein alter Song von uns, "Drüben auf dem Hügel", hatte auch damals schon einen sehr romantisierten Blick auf diese Landschaft und den habe ich immer noch. Aber als ich 1993 nach Hamburg gezogen bin, da war es natürlich die Schwarzwaldhölle. Das Wort ist auch eine Hommage an Thomas Bernhard. In der Spätphase der Schule war ich totaler Thomas-Bernhard-Fan. Ich hatte das völlig verinnerlicht und viele der frühen Tocotronic-Sachen sind sehr von Bernhard beeinflusst.

Das Lied spielen Sie immer noch auf jedem Konzert.

Jan Müller: Das spielen wir einfach wahnsinnig gern und wir werden dieses Stücks auch nicht überdrüssig.

Dirk von Lowtzow: Weil es so eine geniale Komposition ist (lacht).

Jan Müller: Wir wollten es auch mal weglassen, weil wir uns gefragt haben: Stört es die Leute nicht, dass wir das immer spielen?

Popmusik lebt ja auch stilistisch von der Spannung zwischen dem Blick zurück auf die Vorgänger und dem Versuch, etwas ganz Neues zu schaffen. Welcher ist für Tocotronic wichtiger?

Jan Müller: In unserem Instrumentarium sind wir ziemlich reduziert. Wir sind ja eine Rockband. Das ist generell nicht das Modernste, was man sein kann.

Dirk von Lowtzow: Das ist ein bisschen veraltet, ja.

Jan Müller: Dirk singt, Dirk rappt nicht. Also da geht's ja schon los.

Dirk von Lowtzow: Man muss beeinflussbar, offen und porös bleiben für Dinge.

Haben Sie jetzt, nachdem ein neues Album fertig ist, Sorge, dass Ihnen nichts befriedigendes Neues einfallen wird? Oder gibt es da nach so vielen Jahren ein Vertrauen?

Dirk von Lowtzow: Das weiß man nie. Das soll nicht kokett klingen, aber ich weiß es wirklich nicht. Man muss einfach entschlossen weiterarbeiten. Ich glaube, wir sind jetzt in einem interessanten Alter, was das angeht. Ich habe das Gefühl, das Gehirn strukturiert sich gerade etwas um. Man sieht Dinge anders. Das meine ich gar nicht krisenhaft.

Jan Müller: Differenzierter zu werden und trotzdem so etwas Einfaches zu machen wie Popmusik - das ist irgendwie spannend.

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