Thomas Anders in Russland:Spassibo

Während sich Tausende Jugendliche anstrengen, Dieter Bohlen zu gefallen, tourt sein ehemaliger "Modern Talking"-Sangespartner Thomas Anders heute durch Russland - und plant eine Casting-Show. Ein Treffen.

Frank Nienhuysen

Thomas Anders ist müde, jetzt hilft nur noch Tee. Er geht ein paar Schritte zur Hotelbar, bestellt auf Englisch, bedankt sich auf Russisch. "Spassibo", sagt er mit einer rauen Stimme, die nicht so klingt, als tauge sie für ein Konzert, das in drei Stunden beginnt. "Sie ist noch belegt," sagt er, "ich komme einfach nicht zur Ruhe." Anders ist gerade in Tscheljabinsk eingetroffen, nach dreieinhalb Stunden Busfahrt entlang des Urals.

Thomas Anders bei Musikfestival in Weißrussland

"Die Wertschätzung ist in Russland höher", sagt Thomas Anders.

(Foto: dpa)

Er weiß nicht viel mehr von dieser Stadt, als dass er 1995 schon einmal hier war und er jetzt in einem Luxushotel sitzt, das es damals noch nicht gab. Der Sänger ist gerade auf einer seltsamen Art von Welttournee, unterwegs von Europa nach Asien und zurück. Es ist eine Welttournee, die in einem einzigen Land stattfindet. Anders misst die Weiten Russlands aus. Denn dort will man ihn singen hören.

Von Moskau aus ist er über sechs Zeitzonen nach Blagoweschensk an die chinesische Grenze gereist. Noch in der Nacht nach der Show fuhr er mit der Transsibirischen Eisenbahn weiter nach Chabarowsk, von dort flog er nach Petropawlowsk auf die vulkanische Halbinsel Kamtschatka. Los Angeles und Peking liegen näher an Moskau.

Er war auch in Wladiwostok und auf der Insel Sachalin, einst eine abgelegene Strafkolonie für russische Gefangene. "Weiter geht's nicht in Russland", sagt er, "aber da darf ich jetzt nicht arrogant sein und sagen: Das ist das Ende der Welt." Anders sagt, auch dort gebe es ja Menschen, die ihn sehen wollen. Nun also Tscheljabinsk, Ural.

Ein Industriestandort, der sein belastendes Erbe schwer abstreifen kann. Am Platz der Revolution weist Lenin den Weg zum Kommunismus, Kinder klettern in der früheren Rüstungsstadt auf ausrangierten Panzern, die von Plattenbauten gesäumten Straßen sind karg und schnurgerade.

Der alte Klang von neuer Freiheit

Anders' wunderliche Reise durch Russlands ferne Provinz hat viel damit zu tun, dass er in diesem Land noch anders wahrgenommen wird als in Deutschland, wo er auf Vox am "perfekten Promi-Dinner" teilnimmt oder für RTL 2 eine kaum vernehmbare Hitparade moderiert. Auf den Litfaßsäulen von Tscheljabinsk ist die Konkurrenz gering, und die auf den Plakaten angekündigten "goldenen Hits von Modern Talking" wirken in der staubigen Ural-Stadt wie eine seltene Verheißung. "Die Wertschätzung ist in Russland höher", sagt Anders. "In Deutschland ist der Stempel einfach zu stark. Diese ganze Debatte über Modern Talking gibt es in Russland doch gar nicht."

Sein neues Album "Strong" hat er in Russland mehr als 500.000 Mal verkauft, das ist Platinstatus. In Deutschland ist es erst gar nicht auf dem Markt gekommen.

Thomas Anders hat als eine Hälfte des früheren deutschen Popduos fast so viel Häme erlebt wie Erfolg. Die Archive sind voll davon. "Ibizas Westerwelle", schrieb eine Zeitung erst vor ein paar Monaten. "Modern Talking - konnte man das je hören?" Das sind noch die harmlosen Polemiken, mit denen er in Deutschland leben muss. Gegen die Bezeichnung "Sangesschwuchtel" eines Musikkritikers hat er sich vor vielen Jahren gerichtlich gewehrt und gewonnen.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum russische Frauen zu den Konzerten strömen.

"Ich habe meinen Frieden mit Deutschland gefunden"

Anfangs kreiste in ihm ständig die Frage, "wie kann es sein, dass ich in diesem Land Abermillionen CDs verkaufe und die Anerkennung ausländischer Künstler mit weniger Erfolg trotzdem um ein Vielfaches höher ist?" Anders ist jetzt 47, und er sagt, er sei inzwischen aus dem Stadium raus, in dem er sich im eigenen Land unfair behandelt fühlt. "Irgendwann denkt man sich dann: Das ist einfach so."

Anders hat sich immer als kommerziellen Musiker verstanden, und so war der Weg dann auch nicht mehr weit, die Sache vollends pragmatisch zu sehen. Er sagt, "Mercedes und VW verkaufen ihre Autos auch in China und Russland und verdienen ihr Geld damit."

Wie eine Explosion

In Russland kann Anders noch mittelgroße Hallen füllen. Man muss sagen: mühelos. Um das zu verstehen, ist ein Rückblick nötig. Auf eine Zeit, in der strategische Orte wie die Rüstungsschmiede Tscheljabinsk für Besucher geschlossen waren und Popmusik aus der Feindeswelt verpönt war. Modern Talking waren eine der ersten westlichen Gruppen, die in der Sowjetära Platten verkaufen durften und so Sehnsüchte nach mehr Freiheit bedienten. Boris Barabanow, Musikkritiker bei Kommersant Weekend, sagt, "es war wie eine Explosion für die Menschen. Anders mit seinen langen Haaren und westlichen Songs - und das im Sowjetfernsehen. Das sehen die Russen heute noch in ihm."

Noch in den neunziger Jahren wurde Anders klar, dass Russland für ihn eine große Chance, "ein sehr großer Markt" werden könnte. Während Dieter Bohlen sich als Jurymitglied mit massiver Unterstützung des Boulevards in Deutschland breitmachte, pflegte Anders weiter den russischen Markt, ging in Moskauer Fernsehshows, trat mehr als zehnmal im Kreml auf, traf Wladimir Putin und Dmitrij Medwedjew. Sogar eine Casting- Show im russischen Fernsehen plant er. "Ich habe die Gunst der Stunde genutzt", sagt er. Ihm ist bewusst, dass es für viele Russen eine "Nostalgie-Geschichte" ist.

Tscheljabinsk, das Konzert. Den Sinn für Ordnung und Kontrolle hat Russland noch nicht aufgegeben, zumindest in der Provinz. Die Sportarena ist bis zur Bühne brav bestuhlt. Irina Knischnikowa ist aus der Umgebung gekommen, eine ältere Frau aus einem Ort namens Sputnik. Sie hat viel Schminke für Thomas Anders geopfert, und sie sagt, sie sei glücklich, dass sie - anders als 1995 - eine Karte bekommen habe. Für Knischnikowa ist Anders Modern Talking - und Modern Talking ist für sie die zu Ende gehende Sowjetzeit, das Ende des alten Muffs.

Maria Ljaskjewitsch ist 25, zu jung, um ihre Karte anders zu erklären als mit ihrer Lust auf Retromusik. Ob sie auch den anderen kenne, der neben Anders bei Modern Talking mitgemacht hat? Sie überlegt ein paar Sekunden, dann sagt sie, doch noch, zögernd, fragend: "Bohlen?"

Frauen bringen Blumen

Thomas Anders betritt in Schwarz die Bühne, er trägt einen weißen Schal und sagt "Dobryj wetscher", guten Abend. Nach dem zweiten Lied laufen die ersten Frauen mit Blumen nach vorn. Aber uniformierte Saalordner passen auf, dass niemand schon während eines Liedes zum Bühnenrand kommt. Anders singt neue Songs, die nach achtziger Jahre klingen.

Er kokettiert damit, dass er nicht mehr russische Wörter kann als danke, bitte, guten Abend, Wodka. Er verspricht, dass er beim nächsten Mal einen ganzen Satz auf Russisch sagt. Und er singt Modern Talking, in etwas aufgepeppten Versionen. Trotzdem müssen die Bandmitglieder die Zuschauer erst auffordern, aufzustehen. Die neuen Zeiten, sie stehen in Tscheljabinsk erst auf der Schwelle.

Als sich die Halle geleert hat, harrt noch eine Frau am Bühnenrand aus, die Arme fest um eine Langspielplatte von 1985 geklammert, die sie mit zehn Jahren gekauft hat. Sie ist traurig, denn das Autogramm hat ihr der Gitarrist gegeben, Anders ist schon weg. Hinter der Bühne lässt er sich vor dem Blumenberg fotografieren. Er fühlt sich befriedigt, dass er in Russland noch erlebt, was zu Hause längst vergangen ist. Fast 4000 Zuschauer, wie hier in Tscheljabinsk, sagt er selber, würden daheim nicht mehr für ihn in eine Halle kommen. "Dennoch, ich habe meinen Frieden mit Deutschland gefunden."

Am anderen Tag fährt er zurück nach Jekaterinburg, von dort aus weiter zum letzten Tourort. Nach Ischewsk, in die Hauptstadt von Udmurtien.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: