Thilo Sarrazin:Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen...

Thilo Sarrazin ist nicht der erste, der in einem Volk vor allem eine Ressource sieht. Seine Ideen stammen aus der Wirtschaft, das Kriterium seiner kruden Mischung aus Evolutions- und Vererbungslehre lautet: Brauchbarkeit.

Thomas Steinfeld

Im Jahr 1927 erschien eine Handreichung für leitende Angestellte, die manchen Lesern noch heute als Offenbarung vorkommt: Gustav Großmanns "Sich selbst rationalisieren" ist eines der frühesten deutschen Lehrbücher zur Selbstoptimierung - eines Ratgeber-Genres, das erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg wirklich populär wurde.

Buchvorstellung 'Deutschland schafft sich ab'

In der Weltsicht durch und dirch ökonomisch: Thilo Sarrazin.

(Foto: ddp)

Verglichen mit den meisten späteren Werken der Management-Literatur, drückt sich Gustav Großmann bemerkenswert klar aus. Zum Beispiel in der Frage nach einer erfolgreichen Bewerbung: "Halten Sie sich vor Augen: Ihr Chef will eine Arbeitskraft, die sich bezahlt macht. Er will Nutzen aus Ihrer Arbeit. Davon müssen Sie ausgehen", schreibt Gustav Großmann. "Wie können Sie ihm viel mehr verdienen, als er Ihnen zu zahlen hat. Diese Frage gilt es für Sie zu lösen, so gründlich, als Sie es nur vermögen."

Die 28. Auflage erschien im Jahr 1993, Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Exemplaren wurden von diesem Werk verkauft, und zwar eben weil den Thesen dieses Autors jeder Gedanke an Sozialpartnerschaft und Rücksicht auf die Schwachen, an Versicherung und Ausgleich fremd ist. Für diesen Autor zählt allein der Erfolg.

Thilo Sarrazin, bis 2009 Berliner Finanzsenator und seitdem Mitglied im Vorstand der Deutschen Bundesbank, ist in mancherlei Beziehung ein würdiger Nachfolger Gustav Großmanns - nur, dass es ihm nicht um den Erfolg eines einzelnen Unternehmers oder Angestellten zu tun ist, sondern um den eines politischen Gemeinwesens: Deutschland. Diesen Staat behandelt er wie ein Unternehmen: "Alle Untersuchungen zeigen, dass Volkswirtschaften, Gesellschaften und Staaten umso erfolgreicher sind, je fleißiger, gebildeter unternehmerischer und intelligenter eine Bevölkerung ist. Zahlreiche Indikatoren aber lassen vermuten, dass es nach unten geht."

Die "Evaluation" Deutschlands

Eine solche Entwicklung jedoch widerstrebt Thilo Sarrazin, und was ihm dabei durch den Kopf geht, veröffentlichte er zuerst im vergangenen Oktober in einem Interview mit der Zeitschrift Lettre International und seit dieser Woche auch in einem Buch mit dem Titel "Deutschland schafft sich ab". Das Modell für sein Unternehmen ist die Betriebsprüfung oder die "Evaluation", und das Programm lautet: "Sich selbst rationalisieren".

Eben weil Thilo Sarrazin volkswirtschaftlich, ja unternehmerisch denkt, verzichtet er auf die Heuchelei zeitgemäßer Politiker ("gemeinsam müssen wir ...") und teilt seinen Lesern mit: "Er will Nutzen aus Ihrer Arbeit. Davon müssen Sie ausgehen". Wobei das "er" in diesem Fall nicht für einen Arbeitgeber, sondern für den Staat steht. Wie Gustav Großmann dreht er den landläufigen Gedanken, das Gemeinwesen sei zum Wohl eines jeden einzelnen da, einfach um: Was leisten eigentlich die Bürger für ihren Staat, lautet seine Frage. Warum verweigern sie sich in hinreichendem Maße der biologischen Reproduktion? Warum vermeiden sie das Auswendiglernen und die Naturwissenschaften? Und vor allem: Warum gestatten sie einer Gruppe von Einwanderern, nämlich den "Muslimen" (zwischen ihnen werden, aller Erfahrung zum Trotz, kaum Unterschiede getroffen), sich auf Kosten und zum Nachteil des großen Restes der Bevölkerung, sich ebenso fest wie unerreichbar in dieser Gesellschaft einzurichten?

Der Maßstab lautet also, ganz unhistorisch und weder soziologisierend noch psychologisierend: Nützlichkeit, Brauchbarkeit oder, wirtschaftlich gesprochen, Produktivität. Es gibt keine Partei, die Linken und die Grünen eingeschlossen, der ein solchen Denken in den Kategorien von "human ressources" fremd wäre. Nur spricht man ihn nicht aus und redet lieber von der "Verpflichtung gegenüber künftigen Generationen" oder von einer "Verantwortung für Deutschland".

Thilo Sarrazins Maßstab

Thilo Sarrazins Maßstab hat indessen eine andere Seite: Denn eigentlich müsste ja jeder, der nicht zu Gewinn und Vorteil der Volksgemeinschaft beiträgt, zu den Überflüssigen gehören, die sich "auswachsen" müssen, weil das eine, große Projekt von Gesellschaft und Staat in der fortlaufenden Selbstoptimierung zu bestehen habe: Große Teile der Arbeiterschaft, alle Empfänger von Hartz IV, die Frührentner und die Bildungsverweigerer - sie alle können nicht aufgehen in dem Staatsideal, das Thilo Sarrazin als imaginärer Verwalter der nationalen Humanressourcen zeichnet, und so scheidet sich die Gesellschaft in taugliche und untaugliche Menschen, in nützliche und schädliche Bürger. Denn hier spricht die Elite. Anders, als es bei den Rechtspopulisten der Fall ist, redet Thilo Sarrazin von der Spitze der Gesellschaft auf diese herab, und dass hier ein über viele Jahre erprobter politischer Beamter, ein gewesener Minister und amtierender Vorstand spricht, trägt wesentlich zu seiner Popularität bei.

Der schon monströse Erfolg, den Thilo Sarrazin mit seinen Thesen erzielt, lässt darauf schließen, dass ihm - gegen die Politik, die ihn vor allem anstößig findet - sehr viele Menschen recht geben. Er sei, schrieb Frank Schirrmacher in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, der "Ghostwriter einer verängstigten Gesellschaft".

Die Formulierung trifft zu, auch wenn die Angst für alle, die nicht in der Nachbarschaft der wenigen militanten muslimischen Gemeinschaften wohnen, hypothetischen Charakter trägt: Denn Deutschland ist nach wie vor eine der ethnisch homogensten Gesellschaften der Welt - und die Ausländer, die sich in diesem Land eingerichtet haben, nehmen sich nach Menge und Geltung noch immer eher wie ein Zweig aus neben dem dicken Stamm der Eiche.

Die "starke Erbkomopnente" der niederen Intelligenz

Die Angst hingegen spricht eine andere Sprache, und sie findet empirische Daten, um sich beflügeln zu lassen - genauso, wie sie das in der Schweiz, in den Niederlanden und in Dänemark tut. Tatsächlich mag einer der wichtigsten Gründe der amtierenden Politiker, sich so heftig von Thilo Sarrazin zu distanzieren, in der Sorge vor der Entstehung einer rechtspopulistischen Partei begründet sein. Dabei wäre auf diese Angst nicht mit der Verstoßung ihrer Protagonisten, sondern mit Beweglichkeit und Toleranz zu reagieren.

In den Vereinigten Staaten, auf die sich Thilo Sarrazin bezieht, gibt es jedenfalls nicht weniger, sondern mehr ethnische Konflikte als in Deutschland. Aber sie werden offener ausgetragen und durchgestanden. Die Angst ist ein schlechter Ratgeber, und der Versuch, das Verängstigende auszuschließen, treibt Thilo Sarrazin, da mag er noch so selbstbewusst klingen (und sein Erfolg hat viel mit der Souveränität seiner Auftritte zu tun), in einen Widerspruch: Er will die Abwehr und den Kompromiss zugleich, und so entsteht das dauernde Hin und Her zwischen Behauptung und Relativierung, zwischen These und Beschwichtigung, das Thilo Sarrazins öffentliche Auftritte kennzeichnet.

An einem Punkt indessen kann wenig Zweifel herrschen: Thilo Sarrazin ist ein Rassist, und zwar in dem Maße, in dem er ganzen Volksgruppen die Tauglichkeit zur Beförderung Deutschlands in eine bessere Welt abspricht: "Dass die autochthonen Deutschen innerhalb kurzer Zeit zur Minderheit in einem mehrheitlich muslimischen Land mit einer gemischten, vorwiegend türkischen, arabischen und afrikanischen Bevölkerung werden, wäre die logische und zwingende Konsequenz aus dem Umstand, dass wir als Volk und Gesellschaft zu träge und zu indolent sind, selbst für ein bestanderhaltendes, unsere Zukunft sicherndes Geburtenniveau Sorge zu tragen, und diese Aufgabe quasi an Migranten delegieren" - an Menschen mit geringer Bildung und minderer Intelligenz (denn diese besitze eine "starke Erbkomponente").

Demokratischer Rassismus

Doch bevor man sich über solche Thesen empört (und es gibt Gründe, sich darüber zu empören), sollte man ein paar andere Fragen beantworten: Wenn sich viele deutscher Eltern weigern, ihren Nachwuchs zusammen mit Kindern türkischer Einwanderer in die Grundschule zu schicken - ist das nur Vorteilsdenken oder auch Ressentiment? Wieviel Rassismus verbirgt sich in den Kampagnen des Frühjahrs, als ein ganzes Volk, nämlich die Griechen, plötzlich als Tagediebe und Schmarotzer dastanden? Und wird nicht jedes Spiel der Nationalmannschaft im Fußball von großen Mengen Völkerpsychologie begleitet?

Sicherlich, all diese höchst parteilichen Unterscheidungen erscheinen nicht als gewusst und gedacht, sondern als Empfindung oder Ressentiment. Es ist unangenehm, ja sogar peinlich, sich Rechenschaft abzulegen darüber, dass es einen demokratischen Rassismus gibt. Aber es gibt ihn, in allen Parteien, in weiten Teilen der Bevölkerung, überall, wo überhaupt die Vorstellung einer natürlichen Staatsangehörigkeit auftaucht. Und es mag schädlicher sein, diesem Ressentiment nur verhohlen nachzugeben, als es offen auszusprechen.

Krude Mischung aus Darwin und Lamarck

Der Gedanke, in der "nationalen Identität", im Deutschtum als solchem, verberge sich ein gehöriges Maß an politischer Willkür, streift selbstverständlich auch Thilo Sarrazin. Weil er ihm nicht nachgehen kann, ohne seine Leidenschaft für Deutschland zumindest zu relativieren, sucht er nach einer zumindest scheinbar wissenschaftlichen Erklärung - so, wie er ein ganzes Buch voller Statistiken, Hochrechnungen und Diagramme braucht, um die Thesen zu begründen, die er schon im Interview im vergangenen Herbst in die Welt gesetzt hatte.

Die vermeintlich wissenschaftliche Begründung, die er findet, ist die Rassenlehre - wobei sich diese darstellt als eine krude Mischung von Darwin ("biologische Selektion") und Lamarck ("Vererbung erworbener Fähigkeiten"). Sachlich haltbar ist das alles nicht, aber Thilo Sarrazin braucht einen Grund für seine Lehre vom auserwählten Volk der Deutschen.

Gustav Großmann beschloss sein Erfolgsbuch "Sich selbst rationalisieren" mit einigen losen Eintragungen zum "Gedeihen von Individuum, Volk und Menschheit". Darin heißt es: "Es ist so: Die Könner und Kapazitäten leben in einer anderen Welt; in einer ganz anderen Welt, als die Welt der Banalen und der Massen- und Herdenmenschen es ist." Thilo Sarrazin dürfte das so ähnlich sehen.

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