Theatersaisonstart in Berlin  (II):Dem Leben abgelauscht

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In Milo Raus "Empire" an der Schaubühne geht es ganz authentisch um Folter und Krieg. Das hat seine Tücken.

Von Peter Laudenbach

Milo Rau liefert an der Berliner Schaubühne mit seiner Inszenierung "Empire" den Beweis für ein sehr prinzipielles Argument gegen naive Formen dokumentarischer Kunst, das der Philosoph Slavoj Žižek (zu Beginn seines Hegel-Buches) vorbringt: "Wenn die Wahrheit zu traumatisch ist, um ihr direkt ins Auge zu sehen, lässt sie sich nur in Gestalt einer Fiktion akzeptieren." Die direkte Abbildung des Schreckens wäre "obszön und respektlos gegenüber den Opfern". Žižeks Gewährsmann ist Claude Lanzmann, der erklärt hat, wenn er zufällig Originalaufnahmen fände, die die Ermordung von Gefangenen in Auschwitz zeigen, würde er sie nicht für einen Film verwenden, sondern sofort vernichten.

Bei extremen Gewalterfahrungen erscheint Žižek nicht die dokumentarische Abbildung, sondern die "ästhetische Fiktion" als die angemessene Form künstlerischer Bearbeitung. Die Argumentation ist, wie immer bei Žižek, zugespitzt und einseitig. Gegen sie ließe sich zum Beispiel einwenden, dass Peter Weiss' Dokumentarstück "Die Ermittlung" den Schrecken von Auschwitz wesentlich genauer behandelt als etwas Roberto Benignis sentimentaler KZ-Film "Das Leben ist schön".

Aber angesichts von Milo Raus Inszenierung wirken Žižeks Verdikte unmittelbar einleuchtend. Wie schon bei den ersten beiden Teilen seiner "Europa Trilogie" berichten in "Empire" Opfer politischer Gewalt von Flucht, Vertreibung, Krieg und Tod. Diesmal sind es die syrischen Künstler Ramo Ali und Rami Khalef, denen Rau, weshalb auch immer, die rumänische Tragödin Maia Morgenstern und den griechischen Schauspieler Akillas Karazissis zur Seite gestellt hat. Sie sitzen in der nachgebauten syrischen Küche Alis und erzählen aus ihrem Leben. Weil das alles auf einem Ton und bei Maia Morgenstern gerne mit großem Betroffenheitspathos geschieht, bekommen ihre Eheprobleme den gleichen Dringlichkeits-Appeal wie die Berichte der Syrer aus ihrem Bürgerkriegsland. Was Rami Khalef und Ramo Ali über den syrischen Krieg berichten, ist schrecklich. Aber in dem parallel zur Berliner Premiere erschienen Textbuch ("Die Europa Trilogie", Verbrecher Verlag) lassen sich ihre eindrücklichen Berichte nachlesen, ohne dass das Außenrum des Theaters fehlen würde. Sie auf die Bühne zu bringen, schafft keinen ästhetischen oder reflektierenden Mehrwert. Es sorgt für Konfusion, etwa wenn die antike "Medea"-Tragödie eingeblendet wird, weil es in der ja auch irgendwie um den Weg in die Fremde geht. Spätestes wenn minutenlang Fotos von Folteropfern des Assad-Regimes gezeigt werden, unter denen Rami Khalef seinen verschleppten Bruder sucht, muss man an Žižeks Kritik des Genres denken. Hier ist es von Effektkalkül und Gewaltvoyeurismus nicht allzu weit entfernt.

Man kann die eindrücklichen Schilderungen nachlesen, ohne dass das Theater fehlen würde

Das strukturelle Problem des Formats liegt darin, dass die autobiografischen Texte in jeder Aufführung reproduziert, also zu Rollen-Texten werden. Diese Scripted Reality von den Betroffenen vortragen zu lassen, schafft einen falschen Authentizismus, zu dem es passt, dass Ramo Ali, der gut Deutsch kann, hier sozusagen als Echtheitstzertifikat Arabisch sprechen muss.

Im Programmheft erklärt Milo Rau, was er für den "Lichtblick am Ende des Tunnels" hält: "Das ist der Zuschauer, der (. . .) interessiert, vielleicht sogar voller Sympathie zuhört. Mehr an Erlösung kann man auf dieser Welt nicht kriegen." Regisseur und Theaterzuschauer als Erlöser traumatisierter Bürgerkriegsflüchtlinge - mehr an Theaternarzissmus dürfte ebenfalls schwer zu finden sein.

© SZ vom 13.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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