Theaterdebatte:Scheitern dürfen

Theaterdebatte: Der Schauspieler Shenja Lacher - hier zu sehen als Orest am Münchner Residenztheater - kritisiert die autoritären Strukturen am Theater. Ihm reicht's, er hat gekündigt.

Der Schauspieler Shenja Lacher - hier zu sehen als Orest am Münchner Residenztheater - kritisiert die autoritären Strukturen am Theater. Ihm reicht's, er hat gekündigt.

(Foto: Andreas Pohlmann)

Von wegen "feudalistisch"! An Stadt- und Staatstheatern sind Schauspieler wesentlich besser geschützt.

Von Sebastian Huber

In der Theater- und Tanzszene brodelt es. Machtverhältnisse stehen zur Debatte, Besetzungen wichtiger Stellen erregen Widerstand. Am Berliner Staatsballett hat die Berufung von Sasha Waltz zur künstlerischen Leiterin von 2019 an ebenso Proteste des Ensembles hervorgerufen wie zuvor schon an der Berliner Volksbühne die Ernennung des Museumsdirektors Chris Dercon zum Nachfolger von Frank Castorf von der nächsten Spielzeit an. Ein Interview des Schauspielers Shenja Lacher, in dem er die Strukturen innerhalb des Theaters "als zu autokratisch, fast noch feudalistisch" kritisierte, tat ein Übriges. Lacher, seit 2007 Ensemblemitglied am Münchner Residenztheater, hat seinen Vertrag dort gekündigt, weil er es nach eigenem Bekunden nicht mehr aushält, "nur Material zu sein". Auch Künstlervereinigungen wie "Art but fair" fordern bessere Arbeitsbedingungen und mehr Mitspracherechte.

In der SZ haben sich zu diesem Themenkomplex bereits mehrere Stimmen zu Wort gemeldet, so der Vorsitzende von "Art but fair" Johannes Maria Schatz (20.8.), der Theaterwissenschaftler Christopher Balme (1.9.), die Hamburger Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard (7.9.) und der Direktor des Deutschen Bühnenvereins Rolf Bolwin (20.9.). Der Autor des nachfolgenden Textes, Sebastian Huber, ist Chefdramaturg und stellvertretender Intendant am Münchner Residenztheater.

Nach der Rückkehr aus der Sommerpause reibt man sich bei der Lektüre der Zeitungen aus den vergangenen Wochen die sonnenverwöhnten Augen. Eine Debatte hat da stattgefunden, losgetreten von einem Interview des Schauspielers Shenja Lacher, in der schnell vieles durcheinanderging: Berliner Nachfolgedebatten, Kinderbetreuungsfragen und das Selbstverständnis künstlerischer Institutionen. Wie diese Debatte geführt wird, ist besorgniserregend. Einige Beiträge zeichnen ein groteskes, von Gestrigkeit, Feudalismus bzw. Diktatur geprägtes Bild großer kultureller Institutionen, das dringend nach Korrektur verlangt.

Erst machen Schauspieler in Ensembles Karriere, dann wollen sie frei arbeiten

Es ist einfach nicht zutreffend, dass die relevanten Konfliktlinien in den derzeitigen kulturpolitischen Auseinandersetzungen zwischen Intendanten und Schauspielern, dem Theater von heute und dem von morgen, Dramaturgen und Kuratoren oder Äpfeln und Birnen verlaufen. Vielmehr wäre zu fragen, wer ein Interesse daran haben kann, dass kulturell arbeitende Menschen bereit sind, sich gegenseitig diese falschen Alternativen aufzuzwingen.

Wenn wir nicht sehr verantwortlich diskutieren, besteht die Gefahr, dass denen in die Hände gespielt wird, die auf Äpfel und Birnen gleichermaßen verzichten zu können glauben und gerne den ganzen Garten überbauen würden. Der kontinuierliche Abbau, der seit Beginn der Neunzigerjahre die kulturelle Landschaft in Deutschland kennzeichnet, wird begleitet von einer Debatte, in der schon das Wort Besitzstandswahrung einen negativen Klang hat. Dabei ginge es unter anderem genau darum: gesellschaftlichen Besitz und (wo noch vorhanden) Reichtum zu bewahren und nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen.

Shenja Lacher, um kurz auf den Ausgangspunkt der Debatte zurückzukommen, ist ein ausgezeichneter Schauspieler, und es ist für uns als Theater ein Verlust, dass er nicht mehr unserem Ensemble angehören will. Aber dafür hat er - und das ist kein Geheimnis, sondern steht deutlich in seinem Interview zu lesen - keine "politischen" Gründe, sondern er plant in Zukunft einfach anders. Und folgt damit einem Trend unter Schauspielerinnen und Schauspielern ab Mitte dreißig, die, nachdem sie sich in den Institutionen einen Namen gemacht haben, das sogenannte "freie Arbeiten" für sich entdecken, weil sie mit Drehangeboten und Gastanfragen rechnen dürfen. Die Neigung von Künstlern, bei neoliberalen Entwicklungen - Stichworte: Ich-AG, Entsolidarisierung und Prekarisierung - eine gesellschaftliche Vorreiterrolle zu spielen, wird in der bildenden Kunst schon lange, aber auch in den darstellenden Künsten bereits seit einer Weile beobachtet und diskutiert. Hierfür ist Shenja Lachers Interview kein spektakuläres, aber ein typisches Beispiel.

Eine Vorstellung davon, wie ein Theater aussehen sollte, das die gewünschte Unabhängigkeit und Selbständigkeit in höherem Maße gewährleistet, steht in aller Regel nicht hinter solchen Entscheidungen. Das wäre vom Einzelnen wohl auch viel verlangt. Aber wenn ich in den Gesprächen mit scheidenden Schauspielerinnen und Schauspielern an verschiedenen großen Häusern in den zurückliegenden Jahren auf die Arbeitsbedingungen ihrer Kollegen in vielen europäischen Ländern hingewiesen habe, denen eine vergleichbare Ensemblekultur und -struktur fehlt, traf ich oft auf beredtes Schweigen.

Faire Arbeitsbedingungen? Die gibt es am ehesten für festangestellte Künstler

Ohne die Leistungen dieser Kollegen und die wunderbaren Momente mit ihnen schmälern zu wollen: In aller Regel verdanken sich ihre Karrieren den Institutionen, über die sie bisweilen so leichtfertig reden. Denn nicht zuletzt sind feste Ensembles Chancen-Maschinen für den Einzelnen. Es gibt kaum einen Bereich in Kunst und Kultur, der so "fehlerfreundlich" wäre. Peter Laudenbach hat vor einiger Zeit in dieser Zeitung darauf hingewiesen, dass die für künstlerische Arbeit so notwendige Möglichkeit des Scheiterns, bei allem Druck, der in den letzten 25 Jahren entstanden ist, am Stadt- und Staatstheater weiterhin in einzigartiger Weise gegeben ist. Man muss daher tatsächlich froh sein, dass es derzeit zur Bildung von nationalen Interessensvertretungen kommt und hoffen, dass damit eine Vertiefung und Differenzierung der Diskussion einhergehen möge.

Im Hinblick auf die soziale Situation und die beschriebenen Karrierechancen bieten die Häuser mit festen Strukturen den darin künstlerisch Beschäftigten die größte Sicherheit. Es wäre dem Mitbegründer von "Art but fair", Johannes Maria Schatz, daher gut angestanden, anstatt im SZ-Interview von "Feudalismus pur" mit Blick auf Staats- und Stadttheater zu sprechen, die Öffentlichkeit von einem wichtigen Ergebnis der Studie "Faire Arbeitsbedingungen in den darstellenden Künsten und der Musik?!" in Kenntnis zu setzen, die von seiner eigenen Organisation gemeinsam mit der gewerkschaftsnahen Hans Böckler-Stiftung erstellt wurde. Dort finden sich auf Seite 34 die kurzen Sätze: "Insgesamt zeigt sich, dass die Art der Erwerbstätigkeit die Missstände in den Arbeitsbedingungen stark beeinflusst. Zeitweise angestellte Künstler sind von den meisten Missständen am stärksten betroffen, gefolgt von selbständigen Künstlern. Die besten Arbeitsbedingungen haben dauerhaft angestellte Künstler."

Die in der zugrunde liegenden Internet-Umfrage untersuchten Missstände sind nicht von Pappe: Sie betreffen zu geringe Vergütung, unbezahlte Leistungserbringung, Altersarmut, unsichere Beschäftigungssituation, Unvereinbarkeit von Familie und Beruf, Nichteinhaltung gesetzlicher Vorschriften und vertraglicher Vereinbarungen, unlautere Vorteilsgewährung und sexuelle Belästigung.

Wenn eine relevante Gruppe von Beschäftigten solche Beschreibungen überhaupt als zutreffend für ihre Arbeitssituation kennzeichnet, ist das schlimm genug. Dennoch wäre es nur "fair" gewesen, nicht zu unterschlagen, dass sich Ensemblemitglieder in all diesen wichtigen Bereichen deutlich besser geschützt fühlen als freischaffende bzw. zeitweise angestellte Künstler. Wir müssen dringend gemeinsam über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sprechen, unter denen Kunst produziert wird und werden soll, anstatt so zu tun, als gönnten grausame Intendanten armen Schauspielern ihr Abendbrot nicht.

Ausländische Regisseure wundern sich oft über die Autonomie deutscher Darsteller

Der Feudalismus-Vorwurf wird noch überboten von dem verdienstvollen Professor Christopher Balme. Dessen steile These: Die "Allmacht" der Intendanten rühre von der an Diktaturen reichen deutschen Geschichte her. Das führt zu historischen Vergleichen etwa zwischen Gustaf Gründgens und Frank Castorf, bei denen man sich erneut die Augen reiben muss. Der gewichtige Nachteil dieser These: Das gerade Gegenteil ist mindestens ebenso wahr. Die sinnvollen und unabdingbaren Beschneidungen der Intendantenmacht, das System der Checks and Balances in der öffentlichen "Dienststelle" Theater, ließen sich mit Sicherheit ebenso aus den Erfahrungen der deutschen Geschichte herleiten.

Aus der Nähe betrachtet sorgt sich der Intendant eines Stadt- oder Staatstheaters um die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften, verhandelt mit dem Personalrat, wie man daneben auch noch die Unwägbarkeiten künstlerischer Produktion ermöglicht. Er ist nicht nur von demokratisch gewählten Politikern berufen (auch wenn die Wege, auf denen das geschieht, manchmal verwundern und zu Recht öffentlich debattiert werden), sondern steht auch durchgehend mit ihnen im Austausch. Er liest den jüngsten Rechnungshofbericht, setzt dessen Vorgaben um, verlässt sich auf die Expertise seiner Mitarbeiter und weiß ein waches Ensemble an seiner Seite, das er in Einzelgesprächen und Versammlungen regelmäßig trifft, um die Bedürfnisse der Darsteller möglichst gut zu kennen und für ein Arbeitsklima zu sorgen, in dem künstlerische Hochleistungen erbracht werden können. Diktatoren-Alltag, sozusagen.

"Außerdem" ist ein Intendant der künstlerische Leiter eines Hauses, von dem Klarheit und Mut zur Kante, Bekenntnis und die Energie, Räume für Außergewöhnliches freizuboxen, gefordert sind. Ängstlich, eingeschüchtert oder maulfaul ist keiner der Akteure, mit denen er es dabei zu tun hat.

Im Gegenteil lehrt auch hier wieder der Blick über die Grenzen, dass das Selbstbewusstsein der Ensembles hierzulande eine wesentliche Errungenschaft dieser Strukturen ist. Ausländische Regisseure sind häufig verwundert (und erschrecken mitunter) über die Autonomie und den selbstverständlichen Anspruch an Mitsprache, die deutsche Schauspieler in den künstlerischen Prozess zu tragen gewohnt sind. Ihr Ethos, ihre Talente, ihre Bereitschaft tragen das Theater. Die materielle Basis dafür muss immer wieder neu geschaffen werden. Letztlich geht es um den Preis, den eine Gesellschaft bereit ist, für künstlerische Arbeit zu entrichten. Der wird nicht zwischen Intendanten und Schauspielern ausgehandelt.

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