Theater:Totenbeschwörung

Elfriede Jelineks "Wut" in Erlangen

Von Florian Welle, Erlangen

Vor kurzem jährten sich die Anschläge auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo zum zweiten Mal. Als künstlerische Gegenwehr auf die islamistische Terrortat haute Elfriede Jelinek damals "Wut" aufs Papier. Ein Ungetüm von Stück, das sich bis in die Antike zurückarbeitet, gut 120 Seiten Fließtext. Wie mit dem "kleinen Epos", so der Untertitel, umgehen? Wie immer bei Jelinek und ihren postdramatischen Textflächen muss jeder Regisseur seinen eigenen Zugang finden.

Paul-Georg Dittrich, gerade erst für seine Inszenierung von Alban Bergs "Wozzeck" beim Deutschen Theaterpreis "Der Faust" in der Kategorie "Regie Musiktheater" nominiert, entschied sich für eine musikalische Totenbeschwörung. Diese ist zweifach zu verstehen. Als Gedenken an die Anschlagsopfer. Aber auch als Auseinandersetzung mit einstigen Theatergrößen, allen voran mit Christoph Schlingensief, von dem eingangs O-Töne eingespielt werden, und Heiner Müller. Das Markgrafentheater ist mit Zitaten ausgekleidet, unter anderem mit Müllers Satz "Zukunft entsteht allein aus dem Dialog mit den Toten".

Das Theater Erlangen ist eine Wundertüte. Neben gediegener Theaterkost wird man immer wieder von frechen, intelligenten, vor Einfallsreichtum überschäumenden Inszenierungen überrumpelt. "Wut" gehört unbedingt dazu. Die Bühne von Iris Holstein gleicht einem chaotischen Labor. Zu sehen sind ein Zelt, Videos, ein Spinett, diverse Schrägen. Ein Teil des Bodens ist aufgelassen und erlaubt so quasi unterirdische Tiefenbohrungen quer durch Zeit und Raum. Dazu ragt ein Laufsteg weit ins Parkett hinein. Die sieben überaus präsenten Darsteller, darunter der von der Berliner Volksbühne bekannte Musiker "stefanpaul", die Sopranistin Yuka Yanagihara und der Bassbaritonist Rainer Scheerer, tragen anfangs weiße Overalls, dann Barockkostüme und schließlich wieder Weiß. Mal monologisieren sie vor sich hin, mal schnauben sie vor Wut, sondern Text ab - über Religion und die aus den Fugen geratene Welt. Um dann im Chor verzweifelt zu rufen: "Papa, wo bist du?" Den Verweis auf den ans Kreuz genagelten Christus gibt's gratis obendrauf.

Jelineks "Wut" ist auch oder vor allem ein Text über Gottvater, über Ersatzväter aller Art, die vaterlose Gesellschaft. Und was all diese an- oder abwesenden Vaterfiguren mit ihren Kindern machen. Das nimmt die ersten zwei Stunden ein. Ihren Höhepunkt hat die Inszenierung nach der Pause. Da stehen die tollen Sänger Yuka Yanagihara und Rainer Scheerer in Abendrobe vor dem Eisernen Vorhang und singen ausgewählte Textabschnitte, begleitet von "stefanpaul" am Klavier, der auch für das an moderne Musik angelehnte Arrangement sorgte. So konzentriert wie an einem Liederabend vorgetragen, entfalten Sätze wie "Erneuert wird immer nur die Zerstörung" noch einmal eine andere Wucht. Schrille und schmeichlerische Töne erklingen, dann hebt sich wieder der Vorhang. Postapokalyptische Wesen mit Wasserköpfen haben das Labor geentert und schlurfen stumm herum. Die Menschheit scheint ausgestorben oder zumindest mutiert. Und so hat Paul-Georg Dittrich hinter Müllers Satz "Zukunft entsteht allein aus dem Dialog mit den Toten" ein großes Fragezeichen gesetzt.

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