Theater:Stolpersteine der Pubertät

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Melchior (Janosch Fries) studiert sein "Beischlaf-Buch". Die Kenntnisse gewann er dank der liberaleren Erziehung seiner Mutter (Simone Oswald). Doch das Werk wird ihm zum Verhängnis. (Foto: Judith Buss)

Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen" thematisiert Probleme wie Schulleistung, Sexualität und Ablösung vom Elternhaus. In der Schauburg wird daraus ein beklemmendes Spiel mit Masken und Projektionen

Von Barbara Hordych

Eigentlich müsste Wendla nicht sterben. "Die Kleine hätte vorzüglich geboren. Sie war musterhaft gebaut", sagt der "vermummte Herr" am Ende von Frank Wedekinds Drama "Frühlings Erwachen". Wären da nicht die "Abortivmittel der Mutter Schmidtin" gewesen. Oder die lückenhafte Aufklärung ihrer eigenen Mutter, die hartnäckig behauptete, der Storch bringe die Babys. Genauso wenig gehörte ihr "Mörder" Melchior wegen seines "Beischlaf-Bilder-Buchs" der Schule verwiesen und in die "Korrekturanstalt" verbannt. Und auch beider Schulkamerad Moritz hätte sich nicht umbringen müssen, nur weil er sein Examen verpatzt hat. Weist ihn doch schon Melchiors etwas liberalere Mutter darauf hin: "Die schlechtesten Schüler sind die vorzüglichsten Menschen geworden und umgekehrt."

Doch in Wedekinds 1906 uraufgeführtem Jugendstildrama - in dem er übrigens selbst die Rolle des vermummten Herrn übernahm, der so etwas wie den dringend benötigten väterlichen Mentor vorstellt, den keiner der Jugendlichen im Verlauf des Stücks je hatte - nimmt alles den schlimmstmöglichen Verlauf. Die "Kindertragödie" mit ihren Protagonisten im Alter von 14 und 15 Jahren war schon zu Zeiten ihrer Uraufführung ein Skandal, wurde der "Obszönität" bezichtigt oder gar ganz verboten. Interessanterweise liefert sie auch heute noch genügend Zündstoff für kontroverse Debatten, wie die Diskussion des künstlerischen Produktionsteams mit den Pädagogen zeigte, die im Vorfeld der Premiere an diesem Freitag zur Hauptprobe in die Schauburg eingeladen waren.

Der junge Regisseur Jan Friedrich inszeniert Wedekinds Stück als vielschichtiges Kunstwerk aus Puppen-, Masken-, Film- und Schauspiel, in der auch die drastischsten Situationen mehrfach formal gebrochen werden. So wird die Abtreibung an der jungen Wendla von einem Storch vorgenommen. Genau jener Figur also, die vorher von Wendlas Mutter als Erklärung für das Baby ihrer älteren, verheirateten Schwester herhalten musste. Überhaupt tragen die sieben Darsteller meistens Masken, mit Ausnahme der Situationen, in denen die Jugendlichen ihrer Triebhaftigkeit folgen. Ein Verfremdungsprinzip, das man derzeit auch von Regisseurinnen wie Susanne Kennedy und Claudia Bauer kennt. Friedrich, der Puppenspiel an der Ernst-Busch-Hochschule in Berlin studiert hat, verlangt seinen Schauspielern dazu Bewegungsabläufe ab, die an Playmobilfiguren erinnern - die Ellenbogen und Kniegelenke sind steif. Hinzu kommt noch eine Trennung von Körper und Stimme: Unterhalten sich Melchior und Moritz etwa darüber, "ob sie schon die männlichen Regungen gespürt haben", werden die beiden zwar von Janosch Fries und Pan Aurel Bucher verkörpert, doch von ihren Kolleginnen Anne Bontemps und Helene Schmitt (den Darstellerinnen der Martha beziehungsweise der Wendla) gesprochen.

Das Ergebnis ist spannend und beklemmend intensiv zugleich. "Toll gespielt - aber da gehe ich mit meiner neunten Klasse nicht rein, das kann ich meinen Schülern nicht zumuten", sagt eine Realschullehrerin im Anschluss an die Sichtungsveranstaltung kategorisch. Wohingegen andere Pädagogen sich begeistert für einen Besuch mit ihren Neunt-, Zehn- oder Elftklässlern aussprechen. Er selbst mit seinen 25 Jahren sei ja nicht weit von dem Zielpublikum entfernt, gibt der Regisseur zu bedenken. Deshalb wisse er, was heute auf dem Schulhof kursiere, wo schon Zwölfjährige via Handy pornografische Fotos und Filme austauschten.

"Auch wenn die Jugendlichen heute viel aufgeklärter sind, ist ihnen der Zugang zur eigenen Sexualität genau so fremd wie zu Wedekinds Zeiten. Damals wurde er durch Schweigen und Tabuisierung verstellt, heute durch die Überflutung mit Pornografie", sagt Friedrich. In seiner Inszenierung habe er versucht, diese beiden Pole miteinander zu verbinden. Schließlich seien die drastischen Szenen etwa zur Abtreibung und Masturbation auch im Originaltext zu finden. Da sehe er sich "ganz im Sinne Wedekinds". Der hat zum Thema Erotik erklärt, dass er es für ein "wahnwitziges Verbrechen" halte, "die Jugend systematisch zur Dummheit und Blindheit ihrer Sexualität gegenüber anzulernen und zu erziehen".

Frühlings Erwachen , Premiere am Freitag, 19. Januar, 20 Uhr, Schauburg, Franz-Joseph-Straße 47

© SZ vom 19.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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