Theater:Monströses Grauen

Lesezeit: 2 min

Die Dolmetscher der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse bei der Arbeit im Werkraum der Kammerspiele. (Foto: Milena Wojhan)

Die tolle Abschlussarbeit eines Falckenberg-Schülers: "Saal 600"

Von Egbert Tholl, München

Vier Videoleinwände machen aus dem Werkraum der Kammerspiele einen Gerichtssaal, vier Übersetzerkabinen stehen darin. Die Bühne von Anika Wieners hat nichts von Naturalismus, sie tupft die Atmosphäre hin als Assoziationsraum, so konkret die Videobilder auch sind. Auch die Kostüme von ihr sind im Stil der Zeit, William Bartley Cooper trägt Uniform, die drei jungen Frauen Lina Habicht, Lea Johanna Geszti und Mona Vojacek Koper tragen Kleider, die gut zum Boogietanzen passen. Einmal wird auch getanzt, in einer Erholungspause, immer wilder, ruppiger, verzweifelter, als wollten sie im Tanz das ganze Grauen abschütteln. Denn das Grauen ist monströs hier.

Kevin Barz hat zum Abschluss seiner Ausbildung an der Otto-Falckenberg-Schule die Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher der Nazis auf die Bühne gebracht. "Saal 600" heißt die Produktion, die ebenso mutig wie beeindruckend gut gebaut ist. Es ist Musiktheater für Sprache und vier Musiker. Die sieht man auf der Leinwand im Saal sitzen, Paul Brody (Trompete), Silke Lange (Akkordeon), Claudio Puntin (Klarinette) und Gabriella Strümpel (Cello). Sie spielen fast durchgängig, von dramatisch wirkenden Pausen abgesehen, spielen ostinate Figuren, aus denen immer wider ein Instrument hervortritt, mal stockend, mal klangplusternd. Dann verschwindet es wieder im Gefüge dieses disparaten Quartetts. Das, was sie spielen, ist abgeleitet aus den Stimmen und dem Sprechen, das man hier hört und das Paul Brody zur Grundlage seiner Komposition machte. So entsteht ein dichtes, komplexes Geflecht, nicht unbedingt ein Klang des Grauens, aber einer der massiven Beunruhigung.

Die Sicht auf den Prozess ist die Sicht auf dessen Dolmetscher. Tatsächlich gelten die Nürnberger Prozesse als die Erfindung des Simultandolmetschens. Die vier (ehemaligen) Falckenberg-Schüler sprechen die vier Prozesssprachen, also Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch. Sie sprechen äußerst präzise, auch in den Fremdsprachen, wie überhaupt der ganze Abend wirkt wie in einer Partitur fixiert, doch nie kalt konstruiert. Denn in den Körpern der vier und in ihren Gesichtern gibt es Andeutungen von Regungen, Abdrücke dessen, was sie übersetzen müssen.

Zwar bleibt man in der eisigen Aura der Täter, die ungerührt die unfassbaren Gräuel berichten und mit der Inbrunst der Überzeugung die eigene Unschuld beteuern. Aber obwohl die Dolmetscher damals natürlich nichts kommentieren durften, quasi als neutrale Übersetzungsmaschinen fungierten, sieht man nun halt doch vier Menschen, deren Gesichter den Zuschauer geradezu ansaugen, vor allem das von Lina Habicht. Bewusst kann man nicht alles verstehen, bleibt vieles in der fremden Zielsprache, überlagern sich die Stimmen. Es ist die Kakophonie des Unsagbaren. Dann treten die vier zu einem Chor zusammen oder werden die detaillierten Aussagen von Rudolf Höß, dem ehemaligen Auschwitz-Kommandaten wiederholt. Kevin Barz setzt klug auf eine Wirkung, die den Dokumentationscharakter erweitert, den er bereits in der Grundanlage nicht negiert, aber in den Hintergrund drängt. Eine tolle Arbeit!

© SZ vom 22.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: