Theater:Leider, leider, Easy Rider

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Lilja Rupprecht hat Botho Strauß' Siebzigerjahre-Klassiker "Groß und klein" am Schauspiel Köln neu belebt.

Von Martin Krumbholz

Es gab eine Zeit, da man gespannt auf jedes neue Buch, jedes neue Theaterstück von Botho Strauß wartete. Es war jene Zeit, als das Land hübsch säuberlich in zwei konträre politische Fragmente geteilt war; für deren westlichen Part galt der 1944 geborene Strauß als federführender Chronist und Seismograf. "Groß und klein" von 1978 war sein viertes Stück; zum ersten Mal standen nicht Cliquen oder Gruppen im Mittelpunkt, sondern eine einzige, vereinzelte Figur, die Lotte aus Remscheid-Lennep, gewesene Krankengymnastin und Grafikerin, getrennt lebend, arbeitslos, einsam. Lotte reist gern, nach Marokko, Saarbrücken (wo sie ihren Lebensmittelpunkt verloren hat), Essen, Sylt. Sie möchte sich irgendwo festkrallen, ein wenig menschliche Wärme einsaugen, aber das misslingt. Die Menschen, präziser: die Stadt- und Landneurotiker, die sie trifft, sind mit sich selbst beschäftigt. Für immer.

Wie aber nimmt sich dieses "Museum der Leidenschaften", als das Strauß seinen Kosmos bezeichnet hat, fast vierzig Jahre später aus, wie blickt eine Nachgeborene die Exponate an? Die erstaunliche Inszenierung von Lilja Rupprecht am Schauspiel Köln hat darauf eine klare Antwort: mit Befremden. Die Regisseurin greift gar nicht groß in die Episoden-Dramaturgie des Textes ein, sie dreht nur an ein paar Schräubchen, und schon flippen Strauß' Szenen aus, knallen durch, schnappen über. Der legendären Strauß'schen doppelbödigen Gemütlichkeit ist das Gemütvolle genommen, die lächerlichen Redensarten der Siebziger, in denen das Stück unverändert spielt - wie "Leider, leider, Easy Rider" -, erhalten eine Schärfe, als würden die Figuren nicht mit leerem Stroh um sich werfen, sondern mit Maschinenpistolen schießen. Und das ist, manchmal jedenfalls, umwerfend komisch.

Mittendrin: "Lotte-Kotte", wie sie sich kokett nennt - alle Koketterie nützt ihr freilich wenig angesichts feindlich quäkender Sprechanlagen oder leibhaftiger Gesprächspartner, die ihr auch dann nichts zu sagen haben, wenn sie der Lotte ausnahmsweise wohlgesonnen sind wie der zauselige Gitarrenspieler Sören ("Sören wie Kierkegaard"). Sabine Orléans, eine Frau von kräftiger Statur und Stimme, ist eine treffliche Besetzung für die in ihrer herzzerreißenden Naivität sehr liebenswerte Hauptfigur. Nicht wegen ihrer flagranten Begabung zur Komik, sondern weil sie diese Begabung in den entscheidenden Momenten vergisst. Dann ist Lotte nur noch ein Häufchen Elend, eine Zuneigungs-Bettlerin vor dem Herrn, und dieser Herr ist ihr Ex Paul, ein Publizist mit Schreibblockade ("er publiziert auch unter dem Namen Smoky"). Guido Lambrecht spielt ihn ohne einen Funken Barmherzigkeit, obwohl man hinter seinen erschreckenden Wutanfällen eine uneingestandene Weichheit vermutet. Sonst hätte Lotte ihn nicht geliebt.

Das Talent eines Regisseurs erkennt man weniger an tollen Konzepten als vielmehr daran, wie er oder sie die Schauspieler dazu animiert, ihr Bestes zu geben. Wie beispielsweise Sophia Burtscher zuerst vor der Live-Kamera die namenlose schöne "Frau" in ihrer grundlosen Aufgebrachtheit gegen den Mann spielt und wenig später, in ihrer Maske kaum wiederzuerkennen, die wissenschaftliche Assistentin Gudrun, die sehr gute Gründe hat, auf ihren Partner zornig zu sein - das ist grandios. Hier, ganz knapp vor dem - auch ästhetischen - Ausflippen hat die Inszenierung ihre stärksten Momente, weniger da - wie in der albtraumhaften Sylt-Szene -, wo das Ausflippen sehr absichtsvoll schon passiert ist und die alterskonträre Besetzung für Schaueffekte sorgen muss.

Der Einsatz der Videokamera ist zeitgemäß und liegt überdies nah angesichts einer dramaturgischen Verfahrensweise, die ihrerseits mit filmischen Mitteln liebäugelt. Lilja Rupprecht geht klug damit um, oft diffundieren die auf der Seitenbühne aufgenommenen Videos bei der Projektion ins bewusst Unscharfe wie in einem Horrorfilm, der sein Publikum mit Andeutungen täuscht. Die Bühne von Anne Ehrlich ist fern von jeglichem Realismus; sie zeigt ein asymmetrisches, burgähnliches Gehäuse mit vielen hohlen Fenstern und einer Schwingtür, mittendrin eine ausgesparte Fläche, die zugleich als Video-Screen und Catwalk dient.

Nach Stefan Bachmanns hochrespektablem "Hamlet" ist dies die zweite Inszenierung der neuen Saison, die dem Schauspiel Köln im Mülheimer Depot Profil und Perspektive gibt.

© SZ vom 27.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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