Theater in Stuttgart:Der Hunger treibt's rein

Tschewengur

Postrevolutionäres Volk in der Steppenstadt Tschewengur.

(Foto: Thomas Aurin)

Frank Castorf inszeniert erstmals in Stuttgart und dann auch gleich noch Platonows postrevolutionären Roman "Tschewengur". Kann das gut gehen?

Von Jürgen Berger

Die Lokomotive der Geschichte, sie wurde oben auf der Drehbühne in Originalgröße aufgebaut. Anscheinend wird sie gerade in einem Hangar generalüberholt. Unter der Lok gibt es eine jener verschachtelten Wohnlandschaften, die eine ganze Gesellschaft abbilden können: Offensiv ausgestellt auf der einen Seite befindet sich ein dreckiger Hühnerstall, der für Menschen bestimmt ist. Hier wohnt man, weil man nichts anderes hat. Auf der anderen Seite lockt ein Etablissement mit knallroten Leuchtbuchstaben in kyrillischer Schrift. Könnte ein Bordell sein, ist aber der "Club der Arbeiterklasse". Der serbische Bühnenbildner Aleksandar Denić hat dieses Ensemble am Stuttgarter Schauspiel gebaut.

In der Club-Kneipe wird im Verlauf der Dramatisierung des zwischen 1926 und 1939 entstandenen Romans "Tschewengur" von Andrei Platonow heftig diskutiert und abgestimmt. Es soll ja vorangehen mit dem Aufbau der kommunistischen Gesellschaft im postrevolutionären Russland. Die Schauspielerinnen und Schauspieler agieren jedoch derart übersteuert, dass man meinen könnte, nicht postrevolutionäres Russland, sondern die Hysterien der bundesrepublikanischen Hauptstadt sollten in die Metropole der Schwaben übertragen werden. Regisseur des Abends ist der Berliner Volksbühnen-Intendant Frank Castorf.

Dessen Romanadaptionen sind ja unter fünf Stunden fast nie zu haben. Jetzt, da er zum ersten Mal in Stuttgart inszeniert, geht er locker in Richtung sechs Stunden. Mindestens eine davon ist überflüssig, geht es gegen Ende doch fast nur noch um lähmende Videoeinspielungen und Bebilderungen von Textstellen.

Bevor der neueste Castorf-Abend derart zerfasert, ist man aber immer wieder ganz nah an einem Roman, den man wegen seiner lyrischen Sprachmacht gelesen haben sollte, und nicht selten wirkt er, als würden heutige, ganz aktuelle Problemlagen kommentiert.

Platonow führte vor, wie das war, als Stalin und Genossen die Sowjetmacht durch Zwangskollektivierungen formten. Beliebt hat er sich damit nicht gemacht. Die Kulturinquisition grenzte ihn aus. Er starb 1951, zwei Jahre vor Stalin.

Wenn nun einer der Rotarmisten im Stuttgarter Schauspiel davon schwärmt, dass man ihn im sozialistischen Himmel für die Mühen hienieden belohnen werde, könnte das auch ein IS-Killer behaupten. Castorf akzentuiert vor allem die Macht sozialutopischer Ideengebäude, die dem Wohl des Volkes dienen sollen, tatsächlich aber nur Diktaturen fördern und massenhaft Armut erzeugen. Das ist ja auch heute ein Grund für die Flüchtlingsströme aus Bürgerkriegsländern.

Eine Schauspielerin will keine alten avantgardistischen Regisseure mehr akzeptieren

Wie das mit der Armut ist, führt Castorf gleich zu Beginn vor. Wir sind in der Familie von Mawra. Sie hat siebzehn Schwangerschaften hinter sich, nicht alle Kinder überlebten. Da entsorgt Astrid Meyerfeldt als Mawra ein totes Baby auch schon mal im Müll. Es ist nicht wirklich romantisch, wenn du nichts zu essen hast.

Dann kommt das Waisenkind Sascha dazu, der heimliche Held in Platonows Roman, und Johann Jürgens darf ein schüchtern linkischer Junge sein. Später wird er vom Ziehvater zum Betteln geschickt, vorher zeigt er aber, welcher Künstler in ihm steckt.

Bei Platonow könnte aus dem späteren Chefplaner des Sozialismus ein Schriftsteller werden, in Stuttgart spielt er Cello. Krass dagegen gesetzt ist der leibliche Sohn der Familie, der spätere Hardliner in der sozialistischen Nomenklatura des fiktiven Steppenstädtchens Tschewengur. Matti Krause ist als Proschka ein schriller Emporkömmling und auffälligster Schauspieler eines Abend, in dessen Verlauf eine Schauspielerin ganz revolutionär zum Besten gibt, sie akzeptiere jetzt definitiv keine alten avantgardistischen Regisseure mehr. Ein Mann von Selbstironie war Castorf ja eigentlich schon immer.

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