Theater in Berlin-Kreuzberg:Wir sind kein Migranten-Stadl

Migrationshintergrund mit maximalem Nervfaktor und Klischees mit Karacho: Das Ballhaus Naunynstraße liefert die lässigsten Kommentare zu allen Integrationsdebatten. Kritiker und Zuschauer sind begeistert.

Peter Laudenbach

Die jungen Leute geben sich keine große Mühe, sympathisch zu wirken. Sie kratzen sich ausgiebig zwischen den Beinen, brüllen in ihre Handys, schauen so grimmig wie möglich. Kurz: Sie tragen ihren berühmten Migrationshintergrund mit maximalem Nervfaktor vor sich her. Hier geht es nicht höflich und mittelstandskompatibel zu, hier ist Berlin Kreuzberg. Und das sind erst die ersten Minuten einer Theater-Inszenierung, die sämtliche Klischees über Integrationsverweigerer und bildungsferne Schichten mit Karacho bedient, parodiert, ins Extrem treibt und sie gleichzeitig ziemlich lustig und menschenfreundlich umdreht.

Shermin Langhoff

Ballhaus-Chefin Shermin Langhoff will nicht das Rahmenprogramm für gesellschaftliche Integrationsdiskussionen liefern. "Eigentlich müsste sich jedes Theater als postmigrantischer Raum verstehen," findet sie.

(Foto: dpa)

Nurkan Erpulats Inszenierung Verrücktes Blut, eine Koproduktion mit der Ruhrtriennale, ist seit der Premiere im September 2010 das Erfolgsstück im winzigen Kreuzberger Hinterhoftheater Ballhaus Naunynstraße. Von der Bild bis zum Spiegel und dem Fachblatt Theater heute hagelte es euphorische Rezensionen. Und spätestens seit bekannt ist, dass Erpulats Inszenierung zum Theatertreffen eingeladen ist, sitzen in jeder ausverkauften Vorstellung Intendanten, Festival-Kuratoren und Dramaturgen auf Talent- und Trendsuche.

Erpulat, ein metier- und wirkungssicherer, in seiner rustikalen Ästhetik eher konventioneller Regisseur, erzählt in seiner Inszenierung, deren Text er gemeinsam mit dem früheren Schaubühnen-Dramaturgen Jens Hillje entwickelt hat, von einer Sozialverlierer-Schulklasse im Migranten-Viertel. Die an schulischer Bildung desinteressierten Pubertätsrüpel terrorisieren die Lehrerin (furios: Sesede Terziyan), bis diese den Spieß umdreht und die Schüler mit vorgehaltener Pistole zwingt, Schiller zu lesen.

Erpulats Erfolg steht für das gesamte, vor drei Jahren gegründete Ballhaus, ein "postmigrantisches Theater", so das selbst gewählte Label. Hier inszenieren und spielen die etwas anderen Deutschen: Schauspieler, Regisseure und eine resolute Intendantin mit, um das politisch korrekte Schlagwort zu verwenden, Migrationshintergrund.

Wobei diese Vereinheitlichung schon eine grobe Ungenauigkeit ist. Erpulat kam nach einem Regiestudium in der Türkei nach Berlin, um hier Regie zu studieren. Shermin Langhoff, die taffe Ballhaus-Chefin, ist in Deutschland aufgewachsen. Und Neco Celik, dessen kluge Inszenierung Schwarze Jungfrauen vor fünf Jahren im Theater Ähnliches auslöste wie Fatih Akins Film Gegen die Wand im Kino oder Feridun Zaimoglus Bücher in der Literatur, reagiert auf die Frage nach seiner Herkunft leicht genervt: "Ich komme von hier, aus Kreuzberg, ich wohne in der Naunynstraße. Ich komme nicht aus der Türkei."

Was für die Herkunft gilt, gilt erst recht für die Geschichten, die im Ballhaus erzählt werden. "Das Label Migrationstheater ist viel zu ungenau", sagt Nurkan Erpulat. "Wir haben uns unter anderem mit Armenien, mit Illegalisierten in Deutschland, mit dem Mauerfall beschäftigt. Es geht um die ästhetische Auseinandersetzung, um die inhaltlichen Angebote dieser Inszenierungen. Wenn ich eine Liebesgeschichte inszeniere, und die Figuren heißen zufällig Mehmet und Ayse, bleibt das eine Liebesgeschichte, und ist nicht Migrationstheater."

Shermin Langhoff wird prinzipiell, wenn man sie nach dem Selbstverständnis ihres Theaters fragt. "Wir wollen nicht Politik illustrieren, wir wollen nicht das Rahmenprogramm für gesellschaftliche Integrationsdiskussionen liefern. Unsere Wahrnehmung von Gesellschaft ist nicht automatisch eine ethnische. Aber wer woanders aufgewachsen oder das Kind von Migranten ist, hat eine andere Perspektive. Dazu kommt ein politisch-ästhetisches Moment. Wir machen Kunst, wir sind kein Migranten-Stadl. Uns interessieren Konfliktzonen."

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum das Thema Migration in deutschen Theatern erst mit Verspätung angekommen ist.

"Du wirst nie Kleist inszenieren dürfen"

Der enorme Erfolg Erpulats und des Ballhauses, den Berliner Feuilleton-Lieblingen der Saison, hat mindestens so sehr mit einem Versäumnis des Stadttheaterbetriebs wie mit der eigenen künstlerischen Leistung zu tun. Trotz vereinzelter Projekte, etwa Karin Beiers Versuch, am Schauspiel Köln ein multi-ethnisches Ensemble zu entwickeln oder den Inszenierungen des tunesischen Regisseurs Fadhel Jaibi am Schauspielhaus Bochum, war das deutsche Theater bis vor einigen Jahren eine ziemlich deutsche Veranstaltung - auch eine Form von Integrationsverweigerung durch die Mehrheitsgesellschaft.

Was im Kino, in der Popkultur, in der Literatur längst selbstverständlich ist, kommt im Theater mit Verspätung an. "Die Theater haben sich nicht dafür interessiert, dass 25 Prozent der Menschen in diesem Land einen Migrationshintergrund haben", konstatiert Nurkan Erpulat. "Diese Menschen hat das deutsche Mittelstands-Theater völlig ausgeblendet. Das ist beschämend." Die Frage sei daher nicht, weshalb das Ballhaus Naunynstraße Erfolg hat. "Die Frage ist, wie geht die interkulturelle Öffnung der Theater weiter."

Weil die meisten Theater das inzwischen verstanden haben, weil es hierzulande gleichzeitig noch relativ wenig professionelle Theaterkünstler mit nichtdeutschen Eltern gibt, werden diese wenigen gerne als Migrations-Spezialisten engagiert. "Derzeit ist das Interesse groß", beobachtet Neco Celik. "Vielleicht galt es am Anfang mehr unserer Herkunft als unserer Kunst. So langsam registrieren die Leute, dass wir ernstzunehmende Kunst machen." Bei Regisseuren und Intendanten, die aus Belgien oder Holland kommen, spiele die Herkunft keine Rolle. "Wenn die Kleist oder Büchner inszenieren, fragt niemand, aus welchem Land sie kommen", sagt Celik. "Als ich an den Münchner Kammerspielen inszeniert habe, sagte mir ein Schauspieler: Du wirst nie Kleist inszenieren dürfen. Einfach wegen meiner Herkunft."

Das alles, daran lassen die Ballhaus-Macher keinen Zweifel, ist erst der Anfang. "Eigentlich müsste sich jedes Stadttheater als postmigrantischer Raum verstehen", findet Shermin Langhoff. "Einfach Theaterbroschüren in Deutsch und Türkisch zu drucken, interkulturelle Öffnung als Aufgabe der PR-Abteilung, ist sicher nicht der Weg."

Nurkan Erpulat hat vor kurzem in Berlin am Deutschen Theater inszeniert und wird ab kommender Spielzeit regelmäßig am Schauspiel Düsseldorf arbeiten. Shermin Langhoff und Jens Hillje sind als mögliche Nachfolger von HAU-Intendant Matthias Lilienthal im Gespräch. Angesichts des thematisch engen Spektrums am Ballhaus und Inszenierungen, die vor allem von der Kraft der Geschichten, kaum von einer wegweisenden Ästhetik leben, wirkt das allerdings recht abenteuerlich.

Wichtiger als der nächste Karriereschritt ist es, das Labor Ballhaus weiterzuentwickeln, ein ständiger Lernprozess. "Wie ist die Rezeption? Welche Grenzen können wir überwinden? Schaffen wir es, uns selbst nicht zu ethnifizieren, obwohl wir ein ganz klares Label als postmigrantisches Theater haben?", fragt Langhoff. Weil es kein Repertoire gibt, entstehen viele Ballhaus-Inszenierungen nicht nur als Roman-Adaptionen (Schnee), sondern auch aus Recherchen, aus Interviews, aus Improvisationen.

Hakan Savas Mican hat sich für seine Inszenierung "Die Schwäne im Schlachthof", ein Stück, in dem sich Kreuzberger Migranten-Biographien mit ostdeutschen Nach-Wende-Geschichten kreuzen, Lebensgeschichten erzählen lassen. Nurkan Erpulats charmanter Abend Lö Bal Almaya erzählt in vielen Liedern Einwanderungsgeschichte seit der ersten Gastabeiter-Generation.

Es sind Arbeiten, die in ihren Themensetzungen Neuland betreten: Theater als Recherche in der Wirklichkeit. "Stadttheater reagiert im besten Fall auf die Vielfalt der Stadtgesellschaft. Etwas anderes macht das Ballhaus eigentlich nicht", lautet Langhoffs sympathisches Credo. Ihr Fazit: "Wir sind ein Kreuzberger Stadttheater."

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